Op.
105 Symphonie Nr. 7 C-Dur
In
einem Satz, vollendet 1924. Erstaufführung (unter dem Namen Fantasia
sinfonica)
am 24. März 1924 in Stockholm (Orchester des Konzertvereins,
Dirigent Jean
Sibelius).
Sibelius
hatte es in den Jahren 1923–1924, in der Entstehungszeit seiner Symphonie
Nr. 7, alles andere als leicht. Er hatte auf einer Tournee in
Stockholm, Rom und Göteborg sehr erfolgreich dirigiert, aber vor
dem letzten Konzert hatte er Alkohol genossen. Gleich nach dem
Anfang des Konzerts brach Sibelius dieses ab, in der Meinung, er
befände sich in einer Probe. Danach verlief das Konzert ohne
Schwierigkeiten, aber Aino Sibelius, die im Publikum saß, war
entsetzt. „In meinen Ohren klang alles wie ein fürchterliches
Chaos, ich war wie in Todesangst“, erinnerte sie sich später.
Sibelius
war gewohnt, Alkohol zu genießen, um sein Lampenfieber und das
mit dem Alter schlimmer werdende Zittern der Hände zu mildern.
Auch zu Hause in Ainola hatte er Schwierigkeiten die Symphonie
Nr. 7 zu schreiben, was ohne Alkohol zur Stabilisierung der Hände
nicht gelang. Weil in Finnland das Prohibitionsgesetz in Kraft war,
musste Sibelius sich Alkohol auf Arztrezept verschaffen.
Aber
die Symphonie Nr. 7 hatte er schon fast ein Jahrzehnt im
Kopf gehabt, seitdem in seinem Entwurfsbuch das adagio-artige
Thema erschien, das sich ausbreitete und letzten Endes sich selbständig
machte und Grundwurzel der Symphonie Nr. 7 wurde. Er hatte
1918 geschrieben: „Symphonie Nr. 7. Lebenslust und
Lebenskraft, zwischendurch appassionato. Drei Sätze – als
letzter ’ein hellenisches Rondo’“.
Jetzt
hatte sich der ursprüngliche Plan in ein Werk mit nur einem Satz
verwandelt und Sibelius war bereit, sogar seine Gesundheit zu
opfern. Nichts durfte die Übertragung des Meisterwerks, das als
Ergebnis des fast ein Jahrzehnt langen Nachdenkens entstanden war,
vom Kopf des Komponisten aufs Papier behindern.
Aino
Sibelius geriet schließlich in die Situation, anstatt eine
Diskussion mit ihrem Gatten zu führen, ihm einen strengen Zettel
zu schreiben. „Kannst du wirklich so eine Arbeit schätzen, die
du mit Hilfe einer künstlichen Inspiration leistest?“ tadelte
die Gattin. „Auch wenn du irgendeine Komposition fertig bekommst,
ist sie nicht so viel wert wie sie es sein könnte“.
Und
dennoch gibt es in der Symphonie Nr. 7 keine künstliche
Inspiration. Ihre Komplexität, Dichte und Virtuosität zeigen,
dass Sibelius im Gegenteil jede Einzelheit sehr genau überlegt
hatte. Es ist ganz klar, dass Sibelius Alkohol nur zur
Stabilisierung der Hände benötigt hatte, um schreiben zu können;
die Komposition selbst war ja schon fertig in seinem Kopf.
Die
Arbeit war im März 1924 vollendet, und Sibelius dirigierte die
Erstaufführung in Stockholm – ohne Aino, die ihn nicht mehr zu
seinen Konzerten begleitete. Die Proben sollen schwierig gewesen
sein, aber das Konzert selbst lief gut. „Ein großer Erfolg.
Mein neues Werk ist schon eines meiner besten. Der Klang und
‚die Farbe’ sind stark“, konnte er an seine Frau schreiben.
Das
Werk wurde anfangs noch Symphonische Fantasie (Fantasia
sinfonica) genannt, aber schließlich taufte Sibelius das einsätzige
Werk mutig in Symphonie Nr. 7 um.
Die Kritiken waren positiv, aber Sibelius erwartete noch mehr: „Wie
wenig alle diese Leute ahnen können, was ich in meinem neuen Werk
gegeben habe“, schrieb er.
Die
Symphonie Nr. 7 ist der Kulminationspunkt in Sibelius’
symphonischer Serie. Die Konzentration des Materials hat zu der
einzigartigen einsätzigen Struktur geführt. Nicht nur die Form
sondern auch der Gebrauch der Farben ist stark: Die
Streichinstrumente dominieren, wie in der Symphonie Nr. 6,
aber jetzt spielt auch das Posaunenthema eine wichtige Rolle. Es
waren die Lichtvisionen der Streichinstrumente, die die
Komponisten der Spektralmusik in den 1980er Jahren in Ircam, Paris,
veranlassten, Sibelius’ Symphonie Nr. 7 für Kultmusik zu
halten.
Die
Symphonie beginnt mit einem Paukenschlag auf der Dominante g. Die
Streichinstrumente spielen Töne in C-Dur (oder a-Moll) von a aufwärts,
die Kontrabässe schleifen spannend nach. Der Aufstieg kulminiert
in einem Dreiklang in as-Moll.
Notenbeispiel
42
Es
ist, als ob Lava aufwärts durchdrängte, auf die Erdkruste. Die
Holzblasinstrumente spielen ein meditierendes Thema, das „die
Einleitung“ der Symphonie beendet. Diese ist nicht so
abgesondert, wie zuerst vermutet wurde: Nach jahrzehntelangem
Nachsinnen finden die Musikwissenschaftler dort endlich „die
vielen zentralen Ideen“, wie Veijo Murtomäki festgestellt hat.
Notenbeispiel
43
Die
Motive der Streich- und Holzblasinstrumente entwickeln sich. Die
Adagio-Phase wird mit zwei glanzvollen Motiven vervollständigt:
Zuerst die breite Hymne der Streichinstrumente:
Notenbeispiel
44
Dieser
hymnenartige Abschnitt entwickelt sich und die Stimmung wird
dichter, bis der erhabene Aufstieg das wichtige Posaunenthema zum
ersten Mal ertönen lässt.
Notenbeispiel
45
Sind
wir jetzt auf dem Olymp der Antike? „Die ganze Symphonie Nr.
7 hat sehr viel Gemeinsames mit der Antike, besonders mit
Griechenland. Zum Beispiel wurden die Posaunen wie die Instrumente
der Antike behandelt“, deutete Sibelius in den 40er Jahren
seinem Schwiegersohn, dem Dirigenten Jussi Jalas, an.
Alles
hängt mit allem zusammen: Nach dem Posaunenthema hören wir wie
beiläufig das Thema, aus dem später das „Abschiedsthema“
entsteht. Der Komponist entwickelt jetzt folgende Materialien: Das
Streichthema, das Skalenmotiv der Einleitung, den Hinweis auf das
Posaunenthema. Gleichzeitig beschleunigt sich das Tempo. Der Hörer
merkt, dass er sich in der Scherzo-Episode befindet, in der die
spielenden Staccatofiguren und Ausdrücke der tieferen
Leidenschaft sich abwechseln. Wir sind wieder in jener Welt, die
Sibelius uns am Anfang des Finales der Symphonie Nr. 3 eröffnete.
Das
Skalenmotiv wird immer chromatischer entwickelt. Ein tiefer und
drohender Wirbel beginnt Raum zu erobern. Darauf ist das
Posaunenthema als die Stimme Gottes zu hören: Ist es der Erlöser
oder der brüllende Zeus? Das Scherzo-Spiel wird nicht durch die
Stimme entmutigt, die Materialien werden variiert und wiederholt,
bis der Abschnitt, der oft „hellenisches Rondo“ genannt worden
ist, mit seiner Frische alles anregt. Er schleicht zuerst wie
ahnend, einleitungsartig an.
Notenbeispiel
46
Das
Material des Scherzoabschnittes kehrt in dunkleren Farben zurück
und dieselbe Schattierung bezeichnet die Rückkehr des Rondothemas.
Bald sägen die Streicher, als ob sie um ihr Leben kämpften; wir
sind wieder im Gewirr des Scherzomaterials zurück. Das Formdenken
ist neu in der Geschichte der Symphonie, aber trotzdem kann man
„den Zwang des Vorwärtsgehens“ und die absolute, von Sibelius
für so wichtig gehaltene Logik, fühlen.
Das
Skalenmotiv hebt uns wieder in das erhabene Posaunenthema. Aber
unterhalb des Posaunenthemas fährt die aufsteigende Figur der
Streichinstrumente immer höher fort, auf den höchstmöglichen
Gipfelpunkt des Menschentums?
Jetzt
kommt das „Abschiedsthema“ der Symphonie wieder, das zum
ersten Mal gleich nach dem ersten Posaunenthema zu hören war. Es
ist nicht gut für einen Sterblichen so nahe dem Gipfelpunkt zu
bleiben. Ein Gefühl der Wehmütigkeit und Heiligkeit erscheint in
den Streichinstrumenten. Gegen den Hintergrund des Tremolo der
Streichinstrumente weist Sibelius noch zum letzten Mal auf das
Posaunenthema und auf das Holzblasinstrumententhema hin. Steht der
Tod vor uns? Denn eine Reminiszenz
an
Valse Triste erscheint flüchtig in den Kontrabässen.
Noch
einmal jener wichtige, rotierende Impuls d-c-h-c der
Streichinstrumente. Ganz im letzten Moment steigt der Leitton h
auf das von ihm lange vermisste c.
Notenbeispiel
47
Wie
nun der Dirigent Sir Simon Rattle einmal sagte:
”Sibelius is so concentrated and exact (…) With
Sibelius You feel that if one drop touches Your skin it would burn
right through the bone.”(Sibelius
ist so konzentriert und sorgfältig. Wenn man an Sibelius denkt,
bekommt man das Gefühl, dass wenn ein Tropfen die Haut berührt,
er sich bis zum Knochen durchfrisst“).
In
dieser Symphonie lebt jede Note – man könnte nichts hinzufügen
und nichts wegstreichen. Die Tragik der letzten Jahrzehnte von
Sibelius lag daran, dass er nach der Symphonie Nr. 7 in
einem Satz, auch der Serie seiner Symphonien nichts mehr hinzufügen
konnte.
Anscheinend
war alles Wesentliche schon gesagt. Jahrzehntelang skizzierte er
und vollendete die Symphonie Nr. 8 vielleicht auch, die in
den 1940er Jahren wegen der Selbstkritik des Komponisten im Kamin
von Ainola ihr Ende fand.
Auf
Sibelius wartete die Stille von Ainola, aber nur in Hinsicht auf
das Komponieren der Symphonien. Er war noch bereit die Höhepunkte
seiner symphonischen Dichtungen (Tapiola)
und der Bühnenmusik (Der Sturm, Myrsky) zu komponieren.
Zitate
über die Symphonie Nr. 7
„Trotz
ihrer Kürze ist sie die Kulmination seines Schaffens. Ihre Musik
ist eine Konzentration des Kernwesens der besten Eigenschaften der
restlichen Symphonien.“ Simon
Parmet, Dirigent
„Die
Symphonie Nr. 7 (…) ist etwas Neues, Revolutionäres in
der Geschichte der Symphonie (…) Mit der Symphonie Nr. 7
und Tapiola endete das Dur-moll-tonale Zeitalter unumgänglich,
aber auf was für eine großartige Weise!“ Veijo
Murtomäki, Musikwissenschaftler 1990
Die
Siebte bildet ein Paar mit der Sechsten, aber sie ist nicht
biographisch. Das Ego bleibt im Hintergrund und die allgemein
menschlichen Sachen treten in den Vordergrund. Der Komponist
wendet seinen Blick von sich selbst zu Gott hin. Die Siebte ist
Sakralmusik. Auch dieses Werk ist sehr schwer zu spielen.“ Osmo
Vänskä, Dirigent 1998
„In
der Vierten musste er schon das Universum auf den Kopf stellen. In
der Siebten ist es schon eine bestimmende Eigenschaft geworden:
Eine Melodie ohne Gravitation, aber dennoch im Kraftfeld der von
der Masse her unterschiedlichen Planeten existierend. Ich finde
gerade das am feinsten, dass die verschiedenen tonalen Massen in
einem schwerelosen Zustand wogen. Mit Hämeenniemi (dem
Komponisten Eero H.) habe ich einmal überlegt, wann der Zuhörer
der aufsteigenden Linie der Streichinstrumente unterhalb des von
Blechblasinstrumenten gespielten Themas am Ende der Symphonie zu
folgen beginnt: Auf einmal merkt man nur, dass sie aus dem
Hintergrund total hysterisch aufgestiegen ist! Bald tönt das
Fagott hoch und die Flöte tief – auch da gibt es diese
Aufhebung der Schwerkraft.“ Jukka-Pekka
Saraste, Dirigent 2002