Op.
49 Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär), symphonische
Fantasie. Vollendet 1906, Erstaufführung am 29. Dezember 1906 in
St. Petersburg (Orchester des Mariinski-Theaters, Dirigent Jean
Sibelius).
Pohjolas
Tochter
(Pohjolan tytär) ist eines der beliebtesten symphonischen
Gedichte von Sibelius. Erst am Ende der 1990er Jahre gelang es den
Musikwissenschaftlern aufzuklären, wie nuancenreich der
Entstehungsprozess des Gedichtes gewesen war.
Die
Schwierigkeiten lagen darin, dass viele Kompositionsprozesse
ineinander verwickelt waren. Einer war das Motiv „Luonnotar“ (Tochter
der Natur). Ein zweites Projekt war die Symphonie Nr. 3,
ein drittes Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen
ratsastus ja auringonnousu), ein viertes die Entwürfe des Werkes In
memoriamin
und ein fünftes das Marjatta-Oratorium
(Marjatta-oratorio), das Sibelius ab Juni 1905 zum Libretto von
Jalmari Finne plante.
Finne schrieb begeistert über das Thema: „Sibelius redete
besonders schön über die Musik. Er sagte u. a.: ‚Musik ist für
mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt
alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen
das Bild zusammensetzen’.“
Der
Mosaikvergleich ist zutreffend. Sibelius komponierte schon, ohne
es zu wissen, Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär), aber
nannte das Motiv zuerst „Luonnotar“ (Tochter der Natur). Hier
handelt es sich nicht um das Werk Luonnotar
von 1913, das wir kennen, deshalb wird das gleichnamige Projekt in
Anführungszeichen geschrieben. An und für sich ist es natürlich,
dass Marjatta und Luonnotar Sibelius zu gleicher Zeit faszinierten.
Die Frauenfiguren sind einander mythologisch sehr nahe. Marjatta
gebiert den Erlöser, Luonnotar die Welt.
Das
Libretto des Oratoriums wurde in den 1990er Jahren vom
Musikwissenschaftler Markku Hartikainen aufgefunden, wie auch ein
Brief, in dem Jalmari Finne die Struktur des Oratoriums erläutert:
„Der
Text ist dreiteilig, ‚die Geburt Jesu, ‚Beisetzung Jesu und
‚Auferstehung’. Das finnische Volk hat eine musikalische Idee
gefunden, die die vortrefflichste ist, die man sich vorstellen
kann. Ich meine die ’Auferstehung’. Auf die Bitte Marjattas
fliegt die Sonne als ein großer Vogel zum Grab Jesu und scheint
dabei immer intensiver und schmilzt so die Berge und Felsen und
rettet Jesus vor dem Tod. Ich wusste, dass ich einen Feuerball in
Sibelius’ Seele warf, als ich ihm die Idee gab. Er selbst hat
mir gesagt, dass es keine großartigere Gedankenverbindung geben
kann, als Jesus und die Sonne und dass ein solches Oratorium etwas
ganz Neues wäre.“
Am
20. August 1905 schrieb Sibelius an Carpelan, dass er an einem „quasi
oratoriumähnlichen“ Werk – also Marjatta – arbeitete. Ende
August oder Anfang September änderte er jedoch sein Plan.
Sibelius wurde für November nach Heidelberg eingeladen, um seine
Werke zu dirigieren und er beschloss bis dahin „Luonnotar“ zu
vollenden. Er schob den Text von Finne zur Seite, aber die
Marjatta-Musik gab er nicht auf.
Unter
Sibelius’ Skizzen findet man eine dem Anfang der Pohjolas
Tochter (Pohjolan tytär) entsprechende Stelle, in der auf den
Noten das Wort „Marjatta“ und etwas später das Wort „alles“
geschrieben worden waren, beide aus der ersten Strophe des
Marjatta-Texts von Jalmari Finne. Der Anfang von Marjatta
wurde also in den Anfang von Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär)
übertragen – oder Sibelius probierte vielleicht nur aus, ob der
Text von Marjatta zu dem schon komponierten Entwurf passen würde.
Jedenfalls
war „Luonnotar“ jetzt in Sibelius’ kreativer Phantasie auf
dem Weg, sich zu einem reinen Orchesterwerk, anstatt zu einem
Oratorium, zu formen. Das Werk wurde für die Aufführung bei den
Heidelberger Musikfestspielen nicht rechtzeitig fertig. Sibelius
beschloss dann, im Dezember nach Großbritannien zu reisen, um
Konzerte zu geben und sein Werk in aller Ruhe fertig zu
komponieren. Von Großbritannien reiste er nach Paris weiter, wo
er komponierte und ausgiebig feierte.
Nach
der Heimkehr plante Sibelius immer noch eine Symphonie und seine
Pläne fingen auch an, klarer zu werden: ein Teil des Materials würde
den Weg in die kommende 3. Symphonie finden, aber zuerst müsste
„ein symphonisches Gedicht“ komponiert werden. Dieses wurde
auch kurz vor Mittsommer fertiggestellt.
Die
Komposition war jedoch namenlos, denn Sibelius‘ Gedanken waren
schon weit weg von „Luonnotar“. Er schickte seinem Verleger
eine auf Deutsch geschriebene Erklärung zum Programm der
Komposition und hier wurde nicht mehr von Luonnotar
gesprochen, sondern von Pohjolas
Tochter. Der Musikwissenschaftler Timo Virtanen hat die Entwürfe
untersucht und hat beweisen können, dass Sibelius während der
letzten Wochen des Komponierens das Werk wesentlich abgeändert
hatte, vermutlich um es besser an die Geschichte von Väinämöinen
und Pohjolas Tochter im Kalevala (Kalevala) anpassen zu können.
Nach
der Handlung im Kalevala hört Väinämöinen auf seinem
Weg die junge Frau von Pohja bzw. Pohjolas Tochter mit ihrem
Spinnrad einen goldenen Faden im Himmel spinnen. Wäinämöinen
bittet die Tochter, vom Himmel zu ihm herunterzukommen, aber sie
verlangt von ihm zuerst Heldentaten. Es gelang Väinämöinen
nicht die unmöglichen Aufgaben zu lösen und er musste besiegt,
aber auch ungeschlagen davongehen.
Eine
Verbindung der Geschichte zu dem zweiten Librettoentwurf der vor
über einem Jahrzehnt geplanten Oper „Der Bootsbau“ ist
eindeutig. In der verliebte Väinämöinen sich ja in Luonnotar, führte
die Heldentaten aus bzw. besuchte Tuonela und baute das verlangte
Zauberboot, war aber von der Kälte der Luonnotar enttäuscht und
blieb allein.
Der
Komponist schlug dem Verleger den Namen Väinämöinen vor, aber
Lienau hielt ihn für zu schwierig und schlug Pohjolas
Tochter vor. Sibelius antwortete mit dem Vorschlag
L'aventure d'un héros (Abenteuer eines Helden), der wiederum zu
sehr an Heldenleben
von Richard Strauss erinnerte.
Schließlich wurde der Name Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär)
gewählt. Sibelius dirigierte die Uraufführung mit dem Orchester
des Mariinski-Theaters auf Einladung des Dirigenten Alexander
Siloti. Das Orchester verliebte sich in das Werk, und die
Vorstellung war ein großer Erfolg. Auch die Kritiker waren
begeistert. „Ein sehr begabter und phantasiereicher Komponist“,
lobte zum Beispiel die Zeitung „Rusj“.
Pohjolas
Tochter (Pohjolan
tytär) ist eines der am geschicktesten orchestrierten Werke von
Sibelius, wenn als Maßstab die virtuose Kompositionstechnik von
Richard Strauss dient. Es ist erstaunlich, dass der Komponist aus
Entwürfen, die er für verschiedene Kompositionsprojekte
geschrieben hatte, ein Werk zusammenstellen konnte und daraus eine
selbständige Ganzheit formte.
Unter
den Entwürfen von Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) kann
man auch solche finden, die zu jener Ganzheit nicht passten. Sie
gelangten später u. a. in die Symphonie Nr. 3 und in die
Orchestersuite Scènes historiques II (Historiallisia kuvia
II). Material gab es also hinlänglich für ein Werk mit den Ausmaßen
einer Symphonie, aber dieses Mal passten die Mosaikstücke dennoch
besser in die verschiedenen Kompositionen.
Das
Werk fängt mit einem tiefen, rezitativen Motiv für Violoncello
an. Gerade auf den Entwurf dieses Motivs hatte Sibelius seinerzeit
die Wörter „Marjatta“ und „alles“ geschrieben, nachdem er
ausprobiert hatte, ob das Motiv zu der ersten Strophe des
Marjatta-Oratoriums passte.
Auszug
aus der Partitur Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär), Robert
Lienau Musikverlag.
Das
Motiv der nächsten Sequenz könnte Väinämöinens Betroffenheit
und Entzücken vor dieser Erscheinung darstellen. Die kinetische
Energie der Musik versiegt. Die antizipierenden Pizzicatoläufe der
Streichinstrumente beginnen den Prozess, in dem Väinämöinens
Versuche, ebenso wie die Niedlichkeit und auch die Verhöhnung der
Tochter mit musikalischen Mitteln dargestellt werden.
Streichinstrumenten und Holzblasinstrumenten lassen am Ende der
Entwicklungsphase das wilde Sekundenmotiv tönen.
Auszug
aus der Partitur Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär), Robert
Lienau Musikverlag.
Auszug
aus der Partitur Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär), Robert
Lienau Musikverlag.
In
der Entwicklung – und in den Relationen der Tonarten – gibt es
schon eine Menge Anzeichen, die auf die Symphonie Nr. 4
hindeuten. In Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) finden
sich diese Elemente in einer für das große Publikum leichter zu
verdauenden Form, weil die zentralen Themen leicht zu verstehen
und großartig orchestriert sind.
Nach
dem Kampf verschwindet die Erscheinung der Tochter. Der
g-a-b-Tongang der Kontrabässe und Violoncelli erzählt, dass Väinämöinen
– und der Komponist, der sich mit ihm identifizierte –
nachdenklich in die Anfangssituation zurückgekehrt sind. Aber
nach was für einem Abenteuer und was für einer Tonfarbenpracht!