Op.
70 Luonnotar, Tondichtung für Sopran und Orchester. Text
aus dem Kalewala (Kalevala). Vollendet 1913, Erstaufführung
am 10. September 1913 auf dem Gloucester Music Festival in England
(Aino Ackté und das Festival Orchestra, Dirigent Herbert Brewer).
Fassung für Singstimme und Klavier 1915.
Nach
der Meinung vieler Sibelius-Anhänger ist Luonnotar
eines der
kolossalsten Werke des Komponisten, gleich den späten Symphonien
und Tapiola ein vollkommen originelles Meisterwerk.
Der
Ursprung kann auf das Jahr 1894 zurückverfolgt werden, als
Sibelius an dem Opernentwurf arbeitete, in dem Väinämöinen und
Luonnotar die Hauptfiguren waren. Er hatte 1902 einen „Zauberspruch“
für Sopran und großes Orchester geplant. Und während der Jahre
1905–1906 komponierte er das Orchesterwerk „Luonnotar“, das
jedoch im letzten Moment den Namen Pohjolas Tochter
(Pohjolan tytär) erhielt. Die musikalische Idee für Luonnotar
kann man in dem Entwurf der acht Takte finden, den Sibelius im Mai
1909 Eliel Aspelin-Haapkylä in der Bar Riché in Berlin zur
Erinnerung gab.
Sibelius
vollendete Luonnotar
vier Jahre später, in Juli–August 1913 nach einem kurzen
Kompositionsprozess.
Am
24. August schickte er das Werk an Aino Ackté, die das Werk am 3.
September mit dem Komponisten übte. „Sie sang gut, aber wie
weit weg bleibe ich von Vollkommenheit, weil ich mich mit meiner
Arbeit beeilen muss und die Zeit hat keine Möglichkeit, ihren
Einfluss auf die Ausformung auszuüben! Auch nicht auf die
Patina!“, klagte Sibelius am 5. September in seinem Tagebuch.
Dieses
Werk wurde am 10. September bei den Gloucester Musikfestspielen
von Aino Ackté uraufgeführt. „The Times“ lobte den
Komponisten, der über „eine außerordentlich reiche Fantasie
und einen deutlich individuellen Stil“ verfügte. „Musical
Times“ wiederum warf dem Werk vor, dass der Text schwer verständlich
wäre. Sibelius hatte die Kalevala-Verse nach den
Erfordernissen der Musik so verdreht, dass der Text auch auf
Finnisch schwer zu verstehen war.
Dieses
Werk wurde am 10. September bei den Gloucester Musikfestspielen
von Aino Ackté uraufgeführt. „The Times“ lobte den
Komponisten, der über „eine außerordentlich reiche Fantasie
und einen deutlich individuellen Stil“ verfügte. „Musical
Times“ wiederum warf dem Werk vor, dass der Text schwer verständlich
wäre. Sibelius hatte die Kalevala-Verse nach den
Erfordernissen der Musik so verdreht, dass der Text auch auf
Finnisch schwer zu verstehen war.
Erstaufführung
in Finnland war im Januar 1914. Es dirigierte Georg Schnéevoigt
und Solistin war selbstverständlich Aino Ackté. Sie sang auf
eine Weise, die zum Beispiel den Kritiker „Bis“ (Karl Fredrik
Wasenius) in seiner Kritik vom 13. Januar in
„Hufvudstadsbladet“ entzückte. Otto Kotilainen von
„Helsingin Sanomat“ lobte das Werk, aber kritisierte die übertriebene
Interpretation von Aino Ackté. Die exakteste Beschreibung der
Aufführung gab dennoch Aino Sibelius in ihrem Brief an den Gatten:
„Es
[Luonnotar] war absolut phantastisch. Total gigantisch, was
die Behandlung des Motivs betrifft. Ich glaube, gewöhnliche Leute
verstanden überhaupt nichts. Es war wie ein fremder Adler, der
Ursprung aller Existenz aus dem Urweltall. Ich war so hingerissen,
dass ich kaum stehen konnte. (…) Zwei alte Damen vor mir waren
über die ganze Komposition erschrocken. Mit ganz missbilligenden
Mienen folgten sie von Anfang an der Aufführung und sind beinahe
in eine Art Wut des Abscheus geraten. Sie waren wirklich komisch.
Ansonsten wurde mit großem Respekt zugehört.“
Das
Orchester schafft gleich am Anfang des Werkes eine Stimmung einer
Welt vor der Schöpfung. Der Sopran beginnt nach dem Gesause in
fis-Moll mit einer Melodie, die sich bald von der in der Bar Riché
entstandenen Idee trennt und sich aufwärts in die Höhen
fortsetzt.
Auszug
aus der Partitur Luonnotar,
Breitkopf
& Härtel
Auszug
aus der Partitur Luonnotar,
Breitkopf
& Härtel
Die
Jungfrau treibt siebenhundert Jahre auf den Wellen herum. Ein
Windstoß bringt die Musik überraschend in b-Moll. Der stöhnende
Sopran klingt wie die Mutter der Welt in ihren Geburtswehen.
Auszug
aus der Partitur Luonnotar,
Breitkopf
& Härtel
Das
sogar überraschend spielerische Flötenmotiv schildert die
Erscheinung der Tauchente im Himmel. Aber wenn die Tauchente
keinen Nistplatz findet, steigert sich die Musik zu ihrem
dramatischen Höhepunkt: „die Welle nimmt mir meine Bleibe weg“.
Auszug
aus der Partitur Luonnotar,
Breitkopf
& Härtel
Auszug
aus der Partitur Luonnotar,
Breitkopf
& Härtel
„Die
Mutter des Wassers“ hebt ihr Knie aus der Welle und der Vogel
baut darauf sein Nest. Dieses wird wie in Trance erzählt, während
die mystischen Akkorde der Harfen das Bild eines Rituals aufbauen.
Das
Nest zerbricht und mit ihm die Eier. Aus ihnen entstehen Himmel,
Mond und Sterne. „Das Aufleuchten der Sterne wird nur durch den
ätherischen Dreiklang in Fis-Dur mit geteilten Violinen
geschildert“, bedauerte Erkki Salmenhaara später. „Diese
Schlusslösung der Komposition kann auch etwas kritisiert werden“.
Erik Tawaststjerna wiederum sah in der Schlusslösung ein
Vorzeichen der musikalischen Weltraumerscheinungen der 1960er
Jahre.
Auszug
aus der Partitur Luonnotar,
Breitkopf
& Härtel
Die
Musik klingt mystisch, kosmisch und vielleicht sogar Unheil verkündend.
Nach der Schöpfung der Welt wird neue Schönheit möglich, aber
genauso neues Unglück. Die Scheußlichkeiten waren schon im
Anmarsch, schneller als Sibelius vielleicht ahnen konnte. Ein Jahr
später stürzte sich Europa in den Ersten Weltkrieg.