Op.
73 Rondo der Wellen (Vorstudie), Symphonische
Dichtung für Orchester. 1. Fassung 1913 (?). Satz I der ersten
Fassung ist verloren. Uraufführung der ersten Fassung, Satz II
und III, am 19.–20. September 2002 in Lahti. Zweite Fassung
1914, Uraufführung am 24. Oktober 2002 in Lahti (Städtisches
Orchester Lahti, Dirigent Osmo Vänskä). Endgültige Fassung Die
Okeaniden, Uraufführung am 4. Juni 1914 in Norfolk (USA),
Dirigent Jean Sibelius.
Rondo
der Wellen
wurde für die Norfolk Musikspiele in den Vereinigten Staaten im
Auftrag von Horatio Parker fertiggestellt, den der amerikanische
Millionär und Gründer der Festspiele, Carl Stoeckel autorisiert
hatte. Sibelius plante das Werk 1913 zuerst als dreiteilige Suite.
Der erste Satz der Suite ist nicht erhalten, aber der zweite und
dritte Satz wurden im Herbst 2002 als besondere Überraschungsnummern
unter Leitung von Osmo Vänskä auf dem Sibelius-Festival in Lahti
uraufgeführt.
Die
Sätze sind skizzenhaft und nicht unbedingt fertig orchestriert.
Das Themamaterial von Die Okeaniden (Aallottaret) ist im
dritten Satz deutlich zu erkennen. Der zweite Satz ist
vielseitigere Musik und Materialien daraus sind auch in andere
Kompositionen geraten. Sibelius schrieb auf die Skizzen „Fragment
aus einer Suite für Orchester (Vorgänger zu den Okeaniden)“.
Die skizzenhaften Sätze sind an und für sich aufführbare und
interessante Musik.
Im
Frühling 1914 schuf Sibelius aus dem Material ein Orchesterwerk
in einem Satz in Des-Dur. Er schickte es am 3. April in die
Vereinigten Staaten. Sibelius dachte auch an einen deutschen Namen
für die Komposition, aber am 3. April war in der Quittung des
Abschreibers schon der Name Die Okeaniden (Aallottaret)
zu lesen.
Sibelius schickte mit der Partitur eine kurze deutschsprachige
Erklärung, was der Name Die Okeaniden (Aallottaret) in der
finnischen Mythologie bedeutet.
Nur
einige Tage später wurde Sibelius gefragt, ob er in die
Vereinigten Staaten reisen könnte, um sein Werk selbst zu
dirigieren. Er willigte ein. Zur selben Zeit fasste er den
Entschluss, die Komposition zu erneuern, wie in einem
Tagebuchfragment von Aino Sibelius zu lesen ist:
„Diese
Reise bereitet mir Sorgen, obwohl ich schon verstehen kann, wie
sie Janne nützen könnte. Und auch noch der Spaß dazu! Janne
komponiert die ganze Amerika-Komposition neu, Die Okeaniden
(Aallottaret), wie sie jetzt, auf alle Fälle vorläufig, heißt.
Ich mache mir wirklich Sorgen, aber ich verstehe ihn. Heute haben
wir über zusätzliches Programm für Amerika nachgedacht. Die Hälfte
des Konzertprogramms fällt Janne zu.“
Im
Mai war der Kompositionsname vorübergehend wieder deutschsprachig.
Aino Sibelius erzählt über die fieberhafte Kompositionsarbeit:
„(14.5.)
Die Amerika-Reise rückt näher. Rondeau
der Wellen
ist noch nicht fertig. Fieberhafte Eile. Die Reise war für
Samstag angesetzt. Die Partitur ist noch unvollendet. Der
Abschreiber, Herr Kauppi, wohnt bei uns und schreibt Tag und Nacht.
Gestern erfuhren wir, dass die Abfahrt schon am Freitagabend
stattfindet. Das kann man gar nicht beschreiben. Die Zeit war
genau auf die Stunde geplant. Außerdem muss alles Praktische noch
gemacht werden. Das kann nur mit Jannes Energie gelingen. Sonst könnte
von einer Reise überhaupt keine Rede sein. (…) Gestern Abend
konnten wir nichts Praktisches mehr erledigen, sondern Janne zwang
sich mit seiner unglaublichen Kraft zur Arbeit, es fehlen noch ca.
zwanzig Seiten. Die Lampen im Speisesaal wurden angezündet und im
Saal die Kerzenkrone. Es war ein feierlicher Augenblick. Ich wagte
nichts zu sagen. Ich habe nur mein Bestes getan, um die Umgebung
angenehm zu gestalten. Dann ging ich ins Bett und Janne blieb.
Durch die Nacht hörte ich seine Schritte, zuweilen auch leises
Spielen. Gegen Morgen hatte er sich ins Bett gelegt. Der
Abschreiber wachte in seiner Kammer. Es ist jetzt Morgen. Die
Spannung ist immer noch da, es gibt noch viel zu tun heute. Wenn
ich nur richtig ruhig bleiben könnte, das ist das Einzige, womit
ich jetzt dienen kann.“
Es
gelang Sibelius eine neue Partitur in D-Dur auf die Reise
mitzunehmen. Er korrigierte sie etwas, inspiriert von der Seereise.
Aber warum musste er die vollkommen vollendete Fassung in Des-Dur
noch in D-Dur umarbeiten? Der Komponist Kalevi Aho vermutet, dass
aufführungstechnische Gründe eine Rolle spielten:
„In
Des-Dur können die Streichinstrumentenspieler kaum die freien
Saiten benutzen, und weil das Werk stellenweise sehr schnell
bewegende Musik beinhaltet, ist es für die Streicher äußerst
schwierig, sowohl technisch als auch auf die Reinheit bezogen.
D-Dur wiederum ist deswegen eine dankbare Tonart, weil auch die
freien Saiten die ganze Zeit in den schnellen Figuren benutzt
werden können. Der Klang des Orchesters in Des-Dur ist
verschleiert, irgendwie mystisch und impressionistisch, während
D-Dur klarer, aber auch nüchterner klingt. Vielleicht hatte
Sibelius Angst vor der Reaktion der Musiker auf die technisch
schwierige Musik in Des-Dur, wechselte deshalb die Tonart und
arbeitete gleichzeitig das Werk noch einmal um. Rein musikalischer
Mangel wäre meiner Meinung nach in diesem Fall keine Ursache für
eine neue Fassung gewesen.“
Nach
Aho machten die Änderung der Tonart und die Vereinfachung einiger
Einzelheiten das Werk leichter aufführbar, aber gleichzeitig
verlor die Komposition von ihrem Klang „etwas Wesentliches“.
Nachdem
Sibelius in den Vereinigten Staaten angekommen war, bemerkte er in
den Proben, dass das Werk auch in D-Dur für die Orchestermusiker
ausreichend anspruchsvoll war. Nach Carl Stoeckel wich Die
Okeaniden (Aallottaret) wesentlich von allem ab, was die
Musiker je zuvor gespielt hatten.
Das
Konzert wurde ein Riesenerfolg; das Publikum weinte während Finlandia
und
Valse triste
sogar vor Rührung.
Auch die Kritiker waren entzückt und der Komponist selber war
auch begeistert.
„Ich
habe noch nie (…) ein Orchester dirigiert, das sich aus dermaßen
begabten Kräften zusammensetzt hätte, wie das von Herrn Stoeckel
von Boston und der Metropolitan Oper von New York bestellte,
hundertköpfige Orchester. Zum Beispiel habe ich in dem Werk Die
Okeaniden (Aallottaret) so eine Steigerung zustande gebracht,
dass es sogar mich selbst sehr überraschte.“
In
dem Werk Die Okeaniden (Aallottaret) nützt Sibelius die
als impressionistisch betrachtete Klangwelt von Debussy aus. Man
soll aber darauf achten, dass diese Seite schon in den frühesten
Orchesterwerken in Sibelius’ Tonsprache zu erkennen war, zum
Beispiel in Kullervo
und in Lemminkäinen in Tuonela (Lemminkäinen Tuonelassa).
Die
Okeaniden (Aallottaret)
fängt dennoch in ganz anderen Stimmungen an. In der Einleitung
scheint der Morgen über der See zu dämmern. Die Flöten strahlen
wie die Sonne auf den Wellen der Streicher. Es ist nicht ganz
einfach ein deutliches Hauptthema zu finden. Aus den Fragmenten
der Flöten wächst eine ganze Themengruppe, deren Materialien
sich in einer andauernden Metamorphose befinden.
Auszug
aus der Partitur Die Okeaniden (Aallotar),
Breitkopf
& Härtel
Eine
zweite Themengruppe beginnt sich aus den Melodien der Oboe und des
Englischhorns zu entwickeln. Von dem Glitzern des Wasserspiegels
begibt man sich in tiefere Gewässer.
Auszug
aus der Partitur Die Okeaniden (Aallotar),
Breitkopf
& Härtel
Beide
Themengruppen wechseln sich ab, aber stehen gleichzeitig in
andauernder Wechselwirkung miteinander. In der Entwicklung
entfaltet sich der Sturm langsam und die Wellen werden immer höher.
Schließlich wird ein „crash of the great wave“ erlebt, wie
Olin Downes den Höhepunkt beschrieben hat.
Auszug
aus der Partitur Die Okeaniden (Aallotar),
Breitkopf
& Härtel
Die
Wellen beruhigen sich während der letzten Takte des Werkes. So
wurde das Übergangswerk vollendet, das den Höhepunkt des
Impressionismus auf Sibelius’ Art darstellt und womit Sibelius
sich nach den introvertierten Werken Symphonie Nr. 4, Der Barde
(Bardi) und Luonnotar stärker als zuvor nach außen
kehrt.
Die
nächsten großen Herausforderungen sollten die Symphonien 5–7
werden. Nur ein Jahr nach der Vollendung des Werkes Die
Okeaniden (Aallottaret) bearbeitete Sibelius schon das
Skizzenmaterial für sie alle gleichzeitig.