Op.
104 Symphonie
Nr. 6 d-moll:
1.
Allegro molto moderato, 2. Allegretto moderato, 3. Poco vivace, 4.
Allegro molto. Fertiggestellt
1923, Erstaufführung am 19. Februar 1923 in Helsinki (Städtisches
Orchester Helsinki, Dirigent Jean Sibelius).
Die
Symphonie Nr. 6 und die Symphonie Nr. 3 sind die am
wenigsten aufgeführten Symphonien von Sibelius. Der lyrische
Charakter und das scheinbare Fehlen der Dramatik der Symphonie
Nr. 6 verwirrten nach dem Heroismus der Symphonie Nr. 5
wieder das Publikum. Zugleich war das Werk jedoch leichter zu
verstehen als die um elf Jahre ältere Symphonie Nr. 4.
Anfang
der 1920er Jahre hatte Sibelius die Verbindungen zu dem aus den
Ruinen des Krieges aufsteigenden Europa wieder herstellen können
und er gab zum Beispiel in Dänemark, Norwegen und Großbritannien
Konzerte. Sibelius’ siebenjährige Enthaltsamkeit war zu Ende
gegangen und er feierte wieder mit seinen Freunden wie in seiner
Jugendzeit. Nach jedem Fest zog er sich jedoch tagelang in sein
Arbeitszimmer zurück, um intensiv zu arbeiten.
So
erhielt die Symphonie Nr. 6 den Charakter eines
Reinigungsritus: Die dorische Kirchentonart ist in dem Werk
vorherrschend, Sibelius bietet den Zuhörern anstatt Festgetränken
Quellenwasser an. In der Orchestration tritt das als Klarheit und
als heller Klang der Flöten und Streichinstrumente hervor. In der
Symphonie Nr. 5 spielten die Blechblasinstrumente eine große
Rolle, aber hier halten sie ihre Kraft unter der lyrischen Oberfläche
zurück.
Sibelius
erfand schon Themen für die sechste, als er die fünfte
komponierte, und ein Teil der Materialien war zuerst für ein
lyrisches Violinkonzert entworfen worden. In einer späteren Phase
plante Sibelius für kurze Zeit eine Komposition namens Luna
(Kuutar) und auch ein Teil dieses thematischen Materials gelangte
in die Symphonie Nr. 6.
Die
Symphonie wurde zum ersten Mal am 19. Februar 1923 mit Jean
Sibelius als Dirigent aufgeführt. Die Kritiker lobten „die
reine Idylle“ der Symphonie, aber eine dramatischere
Konfrontation wurde deutlich vermisst.
Heute
wird die Symphonie Nr. 6 als ein Meisterwerk anerkannt.
Ihre Bedeutung öffnet sich oft erst dann, wenn man sich zuerst
mit dem Heroismus der Symphonien Nr. 2 und 5 oder
mit der Tiefsinnigkeit der Symphonien Nr. 4 und 7
vertraut gemacht hat.
Der
erste Satz
Der
erste Satz der Symphonie (Allegro molto moderato) fängt mit der
zarten Einleitung der Streichinstrumente an. Für das Hauptthema
wird ein einfaches Motiv gehalten, das die Oboe und die Flöten
als Dialog vorstellen.
Die
Töne der Einleitung gehören zu dem dorischen Modus d-e-f-g-a,
nur die Noten h und c fehlen. Es gibt einen deutlichen
Zusammenhang zu Sibelius’ Probevorlesung an der Universität
1896: „Die ältesten finnischen Volkslieder wurzeln in einem
Tonsystem, in dem Tonika und Dominante – so wie wir sie
verstehen – fehlen, wie auch die Finalis der alten griechischen
Tonarten. Dort gibt es einfach fünf Töne – d, e, f, g, a –
an die noch zwei Töne h und c anschließen, wenn die Fülle des
Ausdrucks der Melodie wächst“, hatte Sibelius gesagt.
Genauso
gut könnte man sagen, dass die Musik auf das Mittelalter oder auf
den Stil des Maestro Palestrina aus der Renaissancezeit hinweist:
Notenbeispiel
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Man
hat auch bisweilen gemeint, dass die Spannung zwischen dem ersten
Satz und dem Finale durch die Wechselwirkung des dorischen d-Moll
und C-Dur entsteht. Sibelius war schon mit solchen
Zusammenstellungen vertraut, aber die Kirchentonart hatte noch nie
eine so überwiegende Stellung gehabt.
Der
Puls der Musik verdoppelt sich, wenn die Holzblasinstrumente in
parallelen Terzen tönen – etwa wie das „Trällermotiv“ des
ersten Satzes der Symphonie Nr. 5. Nach dem Komponisten
folgt der Satz „ganz frei“ den Prinzipien der Sonatenform.
„Das Hauptinteresse liegt in dem thematischen Prozess, in dem
die Themen der Reihe nach vorkommen und sich zu einer thematischen
Signifikanz verfestigen“, stellte der Musikwissenschaftler Erkki
Salmenhaara fest.
Die
Holzblasinstrumente spielen mit den Themenmaterialien oberhalb des
Grundpulses, den die Violinen aufrechterhalten. „All die
Harmonie ist gleichzeitig Kontrapunkt und Kontrapunkt ist Harmonie.
Das Gewebe verflicht sich so natürlich, dass man es kaum merkt“,
schrieb Tawaststjerna.
Wenn
das Hauptthema mit Bassklarinette und Violoncello zurückkehrt,
wird der Klang schon dunkler und dramatischer. Die pastorale
Stimmung bleibt beherrschend, bis das Waldhornmotiv den an die
Idylle gewohnten Zuhörer erschreckt. Die tiefen Tremoli der
Streicher vergrößern die Spannung. Die Schatten werden länger
– wird die Idylle des Tages sich in die Dunkelheit der Nacht
verwandeln?
Der
zweite Satz
Der
zweite Satz ist ein langsamer Satz, obwohl die Tempobezeichnung
Allegretto moderato ist. Wenn der Dirigent die Bezeichnung wortwörtlich
nimmt, dann gibt es keinen langsamen Satz und der das Werk
bereichernde Kontrast bleibt weg.
Später
erzählte Sibelius dem Dirigenten Simon Parmet, dass die
Tempobezeichnung andantino wäre und er war bedrückt, weil das
Werk im Radio zu schnell gespielt wurde. Als Parmet an die
Tempobezeichnung erinnerte, wollte Sibelius sie zu andiantino ändern.
Die Änderung ist nie gemacht worden.
Sibelius
sprach 1951 über dieselbe Sache mit seinem Sekretär. „Zu der
Zeit, als ich meine Symphonie Nr. 6 komponierte, hatten die
Dirigenten die Angewohnheit sehr langsam, manchmal geradezu
schleppend zu dirigieren. Deshalb bezeichnete ich das Tempo des
zweiten Satzes als Allegretto quasi andantino. Jetzt dirigieren
die Dirigenten meistens mit schnellen Tempos, deshalb sollte da
eigentlich Andante stehen.“
Sibelius
irrte sich wieder: Die Tempobezeichnung war nämlich allegretto
moderato und nicht allegretto quasi andantino.
Der
Satz beginnt mit einer vierstimmigen Einleitung der Flöten und
Fagotte. Der Eindruck ist ätherisch, als ob die Instrumente in
der Leere tönten:
Notenbeispiel
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Die
Streichinstrumente vervollständigen das Thema. Ein Teil der
Musikwissenschaftler hält dieses für das Hauptthema.
Notenbeispiel
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Jetzt
beginnt eine andauernde Metamorphose, während der nicht zum
Anfangsthema zurückgekehrt wird, obwohl Reminiszenzen zu hören
sind. Die aufsteigenden Motive der Streichinstrumente erinnern an
den ersten Satz und führen uns in einen von Tönen verzauberten
Wald und das auf eine Weise, die nahe daran ist, eine
psychedelische Stimmung anzukündigen. In der Poco con moto
Episode scheint die Figur der Streichinstrumente auch den
Minimalismus der 60er Jahre zu antizipieren.
Die
geheimnisvollen Figuren der Holzblasinstrumente erinnern wieder
einmal an Vogelgesang – vielleicht in der Abenddämmerung.
Genauso gut kann diese Musik als ein Meisterstück der Polyphonie
analysiert werden, in dem dasselbe Motiv letztendlich zur selben
Zeit in mehreren unterschiedlichen Dichten – zum Beispiel spärlicher
mit Bassklarinetten, Harfe und Kontrabass vorkommt.
Der
dritte Satz
Der
dritte Satz (poco vivace) hat die Funktion eines Scherzo. Fängt
der Satz mit Reiten an? Oder handelt es sich um Sibelius’
eigenartige Fassung von den „zerbrochenen Maschinen“ der
1920er Jahre, die man zum Beispiel in den rhythmischen Spielen von
Prokofjew und des jungen Schostakowitsch hören kann.
Notenbeispiel
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Und
bald wird der Hauptzyklus mit den Holzblasinstrumenten und mit der
virtuosen Antwort der Streichinstrumente vorgestellt. Wenn die Symphonie
Nr. 6 zuerst als Violinkonzert geplant war, dann müssen jetzt
alle Violinisten ihr solistisches Können aufbieten.
Notenbeispiel
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Die
Flöten führen schnell ein zweites Thema vor, danach kehrt der
spannende Rhythmus des Anfangs reicher zurück, nach Ansicht
einiger Musikwissenschaftler in der Funktion des Trios im Scherzo.
Auf den Rhythmus wird thematisches Material gewebt, bis das Tempo
des Hauptzyklus die Violinisten wieder zu meisterhaften Leistungen
zwingt. Der Wechsel hält an, die Metamorphose geht weiter. Die
Blechblasinstrumente führen den Satz entschieden zu Ende.
Der
vierte Satz
Der
vierte Satz beginnt mit einem Wechsel von Fragen und Antworten. Er
wird oft zart lyrisch, in Kirchenstimmung gespielt. Die Aufführungsbezeichnung
ist trotzdem forte und auch das Tempo ist das schnelle allegro
molto. Vielleicht haben die feinfühligen Interpreten dennoch
recht. Sibelius sagte später total widerspruchsvoll seinem
Schwager, dem Dirigenten Jussi Jalas, dass allegro molto hier „nicht
schnell, sondern friedlich poetisch“ bedeuten würde.
Notenbeispiel
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Die
Entwicklung des Wechsels von Fragen und Antworten führt zu
parallelen Terzen der Oboen in sanften Stimmungen. Auf dieses
Motiv antworten die Streichinstrumente flott, und der Satz stürzt
mit vollem Tempo vorwärts. Sibelius führt den Zuhörer jetzt zu
einem anderen Thema, das das eigentliche Hauptthema des Satzes ist.
Die Musikwissenschaftler Erik Tawaststjerna und Veijo Murtomäki
sehen hier die Grundidee der ganzen Symphonie, die also erst jetzt
vollkommen enthüllt wird:
Notenbeispiel
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Nach
Murtomäki weist der skalenartige Charakter des Themas darauf hin,
dass die ganze Symphonie „ein Thema mit Variationen“ ist, wo
als Thema die dorische Skala und das davon abgesonderte Hauptthema
funktionierten. Somit sollte man sich von den vier Sätzen der
Symphonie nicht täuschen lassen: Es handelt sich um eine „monothematische
Ganzheit“, deren Sätze fest miteinander verbundene Variationen
sind. Somit würde die Symphonie die einsätzige Symphonie Nr.
7 ankündigen, andererseits auch Tapiola.
James Hepokoski wiederum hat von der „Rotationsform“ der
Symphonie gesprochen, die auch in vielen anderen Werken von
Sibelius zu finden ist.
Sibelius
beißt sich nicht an dem Thema fest, das er gerade vorgestellt hat.
Es wird in dem immer dunkler werdenden Orchesterschwall ertränkt.
Der anfängliche Wechsel von Fragen und Antworten kehrt zurück,
aber befruchtet von der Dramatik der mittleren Phase. Diese Musik
ist universal, aber am Ende ist finnischer Einschlag für einen
Augenblick deutlicher denn je zuvor in dieser Symphonie.
Notenbeispiel
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Auch
dieses wird als ein Teil des Fragen–Antworten Wechsels enthüllt
und die Frage wird noch einmal enthusiastisch. Die Antwort ist
gelassen und beruhigend. Es ist, als ob die Musik einen nervösen
Menschen in dunkler werdender Nacht zu beruhigen versuchen würde.
In den letzten Takten wird durch das Diminuendo erzählt, dass die
Aufgabe für eine Weile gelungen ist.
Die
Symphonie Nr. 6 ist ein Meisterwerk, deren Reichweite
jahrzehntelang nicht aufgezeigt werden konnte. Aber in den Skizzen,
die während des ersten Weltkrieges entstanden waren, gab es genügend
Material für noch ein drittes Werk, dessen Zeit sehr bald nach
der Fertigstellung der Symphonie Nr. 6 kommen würde.
Die
Nummer sieben war an der Reihe, die Kulmination der symphonischen
Musik von Sibelius.
Zitate
über die Symphonie Nr. 6
„Das
Aschenputtel unter den sieben Symphonien.“ Gerald
Abraham, Musikwissenschaftler
„Von
der Symphonie Nr. 6 fällt mir immer der Duft des ersten
Schnees ein.“ Jean
Sibelius, 1943
„Wildheit
und Leidenschaft (…) sind darin das Wesentliche, aber sie [die
Symphonie] wird durch die Unterströmungen tief unter der Oberfläche
der Musik unterstützt.“ Sibelius
an den Dirigenten Simon Parmet, veröffentlicht 1955
„Diese
Symphonie hat mehr Finnisches in sich als die anderen Symphonien
von Sibelius.“ Simon
Parmet, Dirigent
„Viele
haben sie [die Sechste] für die meisterhafteste Errungenschaft
der symphonischen Kunst von Sibelius gehalten. Die Symphonie Nr.
4 ist gewissermaßen mit den expressionistischen Ambitionen
des Zeitalters verbunden, aber die Symphonie Nr. 6 ist
zeitlos.“ Erkki
Salmenhaara, Musikwissenschaftler 1984
„Heute
mag ich seine Sechste am liebsten. Es ist wohl natürlich, wenn
man älter wird.
Sibelius
sagte ja so schön über die Symphonie Nr. 6: ‚Wenn die
Schatten länger werden’…“Joonas
Kokkonen, Komponist 1995
„Die
Sechste ist biographisch. Der alt werdende Mann kennt sein eigenes
Elend. Die Ideale existieren, aber er kann sie nicht erreichen.“
Osmo Vänskä,
Dirigent 1998
Die
Symphonie Nr. 6 (1923) ist für mich mehr italienischer
Kirchengesang als Geriesel kalten Wassers. Sie ist schlicht und
einfach eine gute Symphonie für die Musiker; die Balance ist
beinahe automatisch in Ordnung.“ Jukka-Pekka
Saraste, Dirigent 2002