Op.
43
Symphonie Nr. 2 D-dur,
1. Fassung 1902: 1. Allegretto moderato, 2. Tempo andante, ma
rubato, 3. Vivacissimo, 4. Allegro moderato. Erstaufführung am 8.
März 1902 in Helsinki (Orchester der Philharmonischen
Gesellschaft, Dirigent Jean Sibelius). Endgültige Fassung 1903:
1. Allegretto, 2. Tempo andante, ma rubato, 3. Vivacissimo, 4.
Allegro moderato. Erstaufführung am 10. November 1903 in
Stockholm, Dirigent Armas Järnefelt.
Die
Symphonie Nr. 2 ist die beliebteste und am meisten
aufgenommene Symphonie von Sibelius. Sie ist kunstvoller
orchestriert als die Symphonie Nr. 1. Die Formgestaltung
ist reifer und die starke slawische Düsterheit wird durch
klassischere Anschauung und durch mediterranes Licht ersetzt.
Der
heroische und optimistische erste und letzte Satz waren genau das,
was das finnische Publikum 1902 inmitten der russischen Unterdrückungsperiode
brauchte. Die Uraufführung besiegelte Sibelius’ Ruf als
Nationalheld. Der Siegeszug der Symphonie war auch anderswo in der
Welt sehr schnell.
Über
die Arbeitsphasen am beliebten Werk werden allerlei Geschichten
erzählt. Es ist bekannt, dass Sibelius schon im Sommer 1899 ein
Thema des Finales der Symphonie Nr. 2 bei der Taufe von
Akseli Gallen-Kallelas Sohn in Ruovesi improvisierte.
Der
Verleger „Bis“ alias Karl Fredrik Wasenius erinnerte sich
wiederum, dass sich Sibelius Themen für die Symphonie Nr. 2
in seinem (Wasenius')
Arbeitszimmer ausgedacht hatte. Es ging darum, die Originalität
der Noten in dem kleinen Stück Caprice Orientale der 7-jährigen
Irene Ener zu begutachten, aber nachdem Sibelius eine Weile die
Noten angestarrt hatte, fing er an zu improvisieren. „Jetzt hab’
ich es! Habe wochenlang darauf gewartet und jetzt hab’ ich
es!“, schrie er auf und improvisierte, nach Aussage von Wasenius,
vermutlich Themata für den ersten Satz der Symphonie Nr. 2.
Mit
Sicherheit weiß man zumindest, dass Sibelius im Februar 1901 in
Rapallo, Italien, ein Thema, das mit einem langsamen Satz endet,
entwarf, und es in seine Entwürfe für das Musikstück, in dem
das Treffen von Don Juan, der Hauptfigur in der Oper Don
Giovanni
von Mozart, mit dem Tod geschildert wird, einbaute. Auf einem
anderen Entwurf wiederum steht „Christus“. Auch dieses Thema
gelangte in den langsamen Satz der Symphonie.
Es
dauerte jedoch noch ein Jahr bis das Werk fertiggestellt wurde und
die programmatischen ersten Impulse waren schon in den Hintergrund
gerückt. Am 8. März fand die triumphale Uraufführung statt, die
nach Aussage von Oskar Merikanto „auch die höchsten Erwartungen
übertraf“.
Der
erste Satz beginnt mit dem sanften Gesang der Streichinstrumente
in hellem D-Dur. Wenn die bedeutenden thematischen Materialien in
der Symphonie Nr. 1 schon in der Klarinetteneinleitung
keimten, dann legen in der Symphonie Nr. 2 gleich die
ersten Takte eine Linie von drei steigenden Tönen offen, die eine
Art Motto für die ganze Symphonie darstellen.
Notenbeispiel
7
Nach
dem Wechselspiel der Holzblasinstrumente und Hörner geschehen
spannende Sachen. Es macht den Forschern der Sonatenform
Schwierigkeiten auf ein eindeutiges Nebenthema hinzuweisen. Die
Vorstellung besteht aus aphoristischen Teilchen, deren Zusammenhänge
Sibelius Schritt für Schritt entblößt.
Der
Forscher Veijo Murtomäki hat betont, dass „der Zusammenhang des
Materials existiert, dieser tatsächlich bewusst geschaffen wurde
und während des Komponierens dem Komponisten klar geworden ist
– in der endgültigen Fassung geht es nur darum, den
Zusammenhang allmählich zu zeigen, dem Zuhörer zu entblößen“.
Während
des Prozesses kehrt das Thema, das mit einer fallenden Quinte
endet, in verschiedenen Beleuchtungen zurück. Das Themamaterial
des Anfangs erhält einen dramatischen Ausdruck und schließlich
werden die in dem Satz vorkommenden musikalischen Themata auf eine
meisterhafte Weise in einer Synthese zusammengestellt. Trotz aller
Drohbilder beendet die pastorale Idylle des Anfangs den Satz.
Der
zweite Satz (Tempo andante, ma rubato) beginnt mit einer langen
Pizzicato-Reihe der Violoncelli und Kontrabässe, die die
Zeitgenossen erstaunte. Der Satz geht eigensinnig weiter, wenn das
erste zentrale Thema des Satzes drohend anklingt, wie wenn der Tod
in Don Juans Zimmer im Schloss einträte:
Notenbeispiel
8
Die
Bedrücktheit wächst. Obwohl die Symphonie sich in absolute Musik
verformt hat, kann man sich die verzweifelten Argumente von Don
Juan und die zwangsläufigen Antworten des Todes vorstellen. Das
vom Fagott vorgestellte Thema bekommt jedoch als Gegenpart ein ätherisches
und friedliches „Christus-Thema“, das schon rechtzeitig in dem
vorangegangenen dramatischen Kampf vorbereitet wurde.
Notenbeispiel
9
Jetzt
beginnt der Kampf zwischen den zwei zentralen Themata sowie eine
andauernde Metamorphose. Es ist irgendwie auch der Kampf zwischen
Tod und Erlösung, für den während der Lebenszeit des Menschen
keine Dauerlösung gefunden werden kann. Das Spiel wird mit zwei
Pizzicato-Schlägen abgebrochen, genau wie im ersten und letzten
Satz der Symphonie Nr. 1.
Der
Beginn des Scherzo (vivacissimo) der Symphonie Nr. 2 ist
mindestens genauso wild wie im entsprechenden Satz der Symphonie
Nr. 1.
Notenbeispiel
10
Die
Flöte stellt ein überraschend friedliches Thema vor und die Gänge
der Streichinstrumente sind jetzt auch begleitend. Das Tempo
beruhigt sich in einem sanften Trio. Die Oboe wiederholt den
gleichen Ton geradezu neun Mal, und die Wirkung hat die Zuhörer
gelegentlich vor Rührung zum Weinen gebracht:
Notenbeispiel
11
Sibelius
wiederholt die verschiedenen Phasen des Scherzo. Aus dem
steigenden Thema der drei Töne (jetzt: ges-as-b) bildet sich eine
prachtvolle Brücke, die das Scherzo mit dem Finale verbindet.
Das
Hauptthema des Finales (Allegro moderato) zeigt Sibelius am
heldenhaftesten. Das steigende Thema der drei Töne kehrt, wie
auch im ersten Satz, mit Streichinstrumenten und D-Dur zurück,
aber die neue Antwort wird dieses Mal anstatt mit
Holzblasinstrumenten mit Trompeten gegeben.
Notenbeispiel
12
Im
Nebenthema steigen die Drohbilder des zweiten Satzes wieder empor,
und die Oboe spielt das Thema, das nach Aussage von Aino Sibelius
zum Gedächtnis ihrer Schwester Elli Järnefelt, die Selbstmord
begangen hatte, komponiert worden war. Sibelius bringt ein
Erlebnis von Übersinnlichkeit in die Musik bis der symphonische
Strom wieder üppiger zu strömen anfängt. Sibelius scheint die
von ihm behandelten Themen in dieser Phase schon übermäßig zu
lieben, und nur ein begeisterter Dirigent kann den Eindruck
verhindern, dass mehr Kompaktheit nötig wäre. Aber der Komponist
weiß, was er macht. Der Sibelius-Forscher Erkki Salmenhaara hat
den Effekt zutreffend erschütternd genannt, wenn „das steigende
Dreierton-Thema“ endlich zum ersten Mal zum vierten Ton
weiterspringt.
Die
Symphonie Nr. 2 wird für jene Zuhörer, die sich in die
unvergesslichen Melodien und den heldenhaften Charakter verliebt
haben, immer die beste bleiben. Das Werk ist eine sehr gut
funktionierende Synthese von klassischem Licht und romantischem
Gefühl. Aber Sibelius enttäuschte diejenigen Zuhörer, die auch
von der dritten Symphonie etwas Ähnliches erwartet hatten. Er war
auf dem Weg zu größerer Konzentration und Kompaktheit sowohl in
der Form als auch in der Orchestration.
Zitate
über die Symphonie Nr. 2
„Das
Andante ist wie ein niederschmetternder Protest gegen all das
Unrecht, das zu unserer Zeit das Licht von der Sonne zu reißen
droht (…) [das Scherzo] gibt den Anschein von einer raschen
Vorbereitung (…) [das Finale] spitzt sich in einem
triumphierenden Ende zu, das im Zuhörer eine Vorstellung von
hellen und trostreichen Aussichten für die Zukunft erweckt.“ Robert
Kajanus, Dirigent 1902
„Ein
absolutes Meisterwerk, eine von den wenigen gegenwärtigen
symphonischen Schöpfungen, die in dieselbe Richtung weisen, wie
Beethovens Symphonien.“ Karl
Flodin, Kritiker 1903
„Ihre
Bühne ist die Gegenwart, ihr Held ist Sibelius selbst… die Symphonie
Nr. 2 bedeutet die endgültige Erlösung der Persönlichkeit
von den Fesseln der Objektivität.“ Erik
Furuhjelm, Forscher, 1916
„Die
Symphonie Nr. 2 ist ein Lobgesang auf den Sommer und auf
die Lebensfreude.“ Simon
Parmet 1955
”I
find this work vulgar, self-indulgent and provincial beyond any
description.”
(„Ich
halte dieses Werk für unsagbar vulgär, selbstgefällig und
provinziell.“)
Virgil
Thomson, Kritiker und Komponist
„Die
Symphonie Nr. 2 ist eine große romantische Symphonie. Sie hat
keine archaisch-slawischen Töne mehr, wie die Symphonie Nr. 1,
sondern das Ideal liegt in Mitteleuropa. Die Symphonie liegt näher
an Brahms als an Tschaikowski.“ Erkki
Salmenhaara, Forscher 1984
„Die
2. vertritt schon, verglichen mit der Symphonie Nr. 1,
einen vornehmen Mann der Welt, der den Blick auf den Horizont
richtet. Vom Slawismus wurde der Weg nach Mitteleuropa gefunden,
aber mir fallen zeitweise auch Visionen von zaubernden karelischen
Greisinnen ein.“ Jukka-Pekka
Saraste, Dirigent 2002
„Die
Symphonie Nr. 2 ist mit dem Selbständigkeitskampf unseres
Volkes verbunden, aber sie betrifft auch den individuellen Kampf,
die Krise und den Umbruch. Deshalb berührt sie.“ Osmo
Vänskä, Dirigent 1998
„Die
Melodien in dieser Symphonie sind mir bekannt, zum Beispiel gibt
es im Finale ein Thema, das auch bei Tschaikowski gefunden werden
könnte. Aber über die Form musste ich nachdenken, auf den ersten
Blick sah ich viele Überraschungen in der Partitur.“ Valeri
Gergijev, Dirigent 2001