Sibelius:
Musik
für das Schauspiel Der
Sturm (Myrsky) von Shakespeare, op.
109 (1925-26)
In
der Spätperiode von Sibelius gibt es ein Rätsel. Je näher sein
60. Geburtstag rückte, desto schwieriger empfand der Komponist
seine Arbeit: „die Selbstkritik wächst enorm“. Von diesen
Problemen ist aber in seinen Kompositionen Anfang der 1920er Jahre
keine Spur zu bemerken. Die
Symphonien Nr. 6 (1923) und Nr.
7 (1924), die Bühnenmusik Der
Sturm (Myrsky) (1925–1926) und Tapiola
(1926) scheinen eher leicht entstanden zu sein, verglichen mit dem
schweren Komponierprozess der Symphonie
Nr. 5. Und das Bedeutungsvollste: genau wie Sibelius die für
ihn so zentrale Musikart in seiner letzten Symphonie vervollständigte,
ist Tapiola
ein meisterhafter Schluss für die Serie der symphonischen
Dichtungen und Der Sturm
(Myrsky) sein großartigstes Bühnenmusikwerk.
Der
Sturm
(Myrsky) entstand angeblich aus einem äußerlichen Anstoß, als
Sibelius’ dänischer Verleger Wilhelm Hansen sich im Mai 1925
erkundigte: „Haben Sie Musik für das Schauspiel Der
Sturm (Myrsky) komponiert? Det Kongelige Teater in Kopenhagen
beabsichtigt dieses Schauspiel aufzuführen und möchte möglicherweise
Ihre Musik einsetzen.“ Interessant ist auch, dass der 1919
gestorbene Freund und Mäzen, Axel Carpelan, schon 1901
vorgeschlagen hatte: Herr S., sollten Sie nicht irgendwann mal Ihr
Interesse auf die Dramen von Shakespeare richten… Der
Sturm würde gerade Ihnen gut passen: Prospero (Zauberer),
Miranda, Geister der Erde und Luft usw.“ Ebenso wie Sibelius die
von Carpelan empfohlene „Waldsymphonie"
in seinem Tapiola
verwirklichte, mag auch das Thema des Schauspiels Der
Sturm (Myrsky) ihn schon lange beschäftigt haben und er hatte
keine Schwierigkeiten sich mit dem Schicksal Prosperos, des
alternden Künstlers, zu identifizieren.
Die
Partitur des neuen Bühnenmusikwerkes entstand überraschend
schnell, im Herbst 1925, teilweise vielleicht Anfang des folgenden
Jahres. Die über eine Stunde dauernde Bühnenmusik ist für
Singstimmen, gemischten Chor, Harmonium und großes Orchester
komponiert. Die Musik umfasst insgesamt 36 Nummern.
Die
Uraufführung war am 15. März
1926 in
Kopenhagen und insbesondere die Musik des Schauspiels war ein
Erfolg und sie wurde für gelungen gehalten: „Shakespeare und
Sibelius, diese zwei Genies, haben einander gefunden.“
Sofort
nach der Premiere schrieb Sibelius: „In der Bühnenmusik des
Schauspiels Der Sturm
(Myrsky) gibt es eine Menge von Motiven, die ich noch ausführlicher
behandeln möchte. Wegen des Dramas habe ich sie nur skizzieren können.“
Die Schlussklimax des Werkes Tapiola sowie die chromatischen Texturen und Texturen mit Ganztönen
können insbesondere als Weiterentwicklung der Ouvertüre der Bühnenmusik
Der Sturm (Myrsky)
angesehen werden. Aber sonst verwirklichte Sibelius leider seine
Pläne nicht: Die aus der Bühnenmusik umgearbeiteten zwei
Orchestersuiten sowie die daraus getrennte Ouvertüre umfassen
insgesamt 19 Nummern, bei denen Sibelius die Teile vielmehr
konzentrierte und zusammensetzte, manchmal auf eine etwas merkwürdige,
das Drama verdunkelnde Weise. Deshalb ist es mehr als begründet,
die originale Bühnenmusik in Konzerten wieder einzusetzen,
besonders weil viele der außerhalb der Suiten gebliebene Stücke
ausgezeichnete Musik sind.
In
der Bühnenmusik Der Sturm
kommt das orchestrale Genie in Sibelius am deutlichsten zum
Ausdruck. Sein Einfallsreichtum, seine Fähigkeit neue
Orchersterfarben, die nie zuvor zu hören gewesen waren, zu
schaffen, erscheint geradezu unerschöpflich. Die schon von den
Suiten bekannte Klangzauberei der Nummern blüht in ihrer ursprünglichen
Form wieder auf. Das Klangbild der Harfe, des Harmoniums und des
Chors im Chor der Winde
(Nr. 4) (Tuulten kuoro, nro 4) und das Zusammenfügen der Harfe
und des Harmoniums mit den hohen sordinierten Streichinstrumenten
sowie mit dem Flötensolo in Nummer 9 Der
Eichbaum (Tammi, nro 9) ruft eine traumhafte, berauschende
Stimmung hervor.
Andererseits
schlägt die kurze, wiederkehrende Musik, die Ariels Fliegen
schildert (Nr. 3, 5, 21, 28–30), voll zu. Das machen auch die in
Suiten verstümmelten, aber in der Bühnenmusik in ihrem ganzen
Umfang vorkommenden Nummern – die Charakterisierung des
schuftigen Antonio (Nr. 17) und das erschütternd dissonante Porträt
von Prospero (Nr. 32). Auch die Caliban beschreibende
Zwischenmusik (Nr. 11) sowie Prosperos wuchtiges Porträt im
Barockstil (Nr. 8) machen einen größeren Eindruck in ihrem ursprünglichen
Umfang.
Der
Zuhörer ist vor allem dankbar dafür, dass er mit der Bühnenmusik
noch zehn ganz neue Nummern geschenkt bekommt, darunter ein paar
entzückende Lieder. Solche sind u. a. Ariels
drittes Lied (Nr. 10) (Arielin kolmas laulu, nro 10), das
wilde Stefanos Lied (Nr.
12) (Stefanon laulu, nro 12), das walzerrhythmische Iris’
Melodrama (Nr. 24) (Iiriksen melodraama, nro 24) und das
imposante Junos Lied (Nr.
25) (Junon laulu, nro 25) sowie das prachtvolle Schlusslied Cortège
(Nr. 34) (Cortège
nro 34) und der fragende Epilog
(Nr. 34bis.) (Epilogi 34bis.).
Sibelius
erweist sich mit der ursprünglichen Bühnenmusik des Schauspiels Der
Sturm (Myrsky) als Tondichter, der sich auf dem Höhepunkt
seiner schöpferischen Kraft befindet. Die Musik erstreckt sich
vom Barock im Stil Corellis und Purcells bis zum Neoklassizismus
im Stil Strawinskis (Szene, Nr. 31) und bis zur Wildheit im Stil
Prokofjews (die Caliban-Nummern 11 und 13). Ungeachtet der weiten
Stilauswahl ist er fähig die Musik zusammenzuhalten. Sibelius
verbindet die frechste Commedia dell'art (die Lieder Stephanos und
Calibans, Kanon der
Zechbrüder, Nr. 16) mit der erhabensten Tragödie (die
Prospero-Nummern) – im echten Geist von Shakespeare. In seiner Bühnenmusik
Der Sturm (Myrsky) schuf Sibelius eine seiner genialsten
Orchesterpartituren.
Synopsis
Antonio
hat, mit Hilfe des Königs von Neapel, Alonso, seinen Bruder,
Prospero, den Herzog von Mailand, gestürzt. Prospero hat sich mit
seiner Tochter Miranda auf einer verlassenen Insel niedergelassen
und hat sich deren Bewohner, den Geist der Luft Ariel und das
Monstrum Caliban, mit seinen Zauberkräften gefügig gemacht. Nach
vielen Jahren segelt ein Schiff mit den Passagieren Antonio und
Alonso samt dessen Sohn Ferdinand, seinem Bruder Sebastian sowie
dem Rat Gonzalo an der Insel vorbei. Hier fangen die Musiknummern
des Schauspiels an (1–34bis.):
Nr.
1, Ouvertüre
(Alkusoitto) ((später Nr. 9 der 1. Suite für Orchester = I/9: Der
Sturm (Myrsky)). Das Schiff sinkt im Orkan, den Prospero
bewirkt hat.
Szene
I
Nr.
2, Miranda wird in den
Schlaf gewogen (Miranda vaipuu uneen) (I/7: Intrada.
Berceuse).
Miranda war über den Schiffbruch sehr erschüttert. Dann erzählt
Prospero von seiner Vergangenheit und versetzt seine Tochter in
den Schlaf. Nr. 3, Ariel
fliegt herein (Ariel lentää paikalle). Prospero ruft Ariel
herbei. (Ariel als Geist ist geschlechtslos. Auf der Bühne spielt
seine Rolle meistens ein Mann oder ein Knabe, aber Sibelius hat
die Rolle einer Sängerin gegeben.). Nr. 4, Chor
der Winde (Tuulten kuoro) (II/1: Chor
der Winde (Tuulten kuoro). Ariel erzählt, wie er das Schiff
versenkte; die Musik schildert milde Winde nach dem Sturm. Nr. 5, Ariel
eilt fort (Ariel rientää pois). Prospero befiehlt Ariel zu
gehen und sich in eine Meerjungfrau zu verwandeln, die nur für
Prospero zu sehen wäre. Nr. 6, Ariels erstes Lied, mit Einleitung und Chor (Arielin 1. laulu
johdannon ja kuoron kera) ((II/8: Die
Najaden (Najadit)). Nach dem Gespräch von Prospero und
Caliban kehrt Ariel spielend und singend als eine unsichtbare
Meerjungfrau zurück und das Bellen der Hunde und das Krähen der
Hähne begleitet ihn (es). Nr. 7, Ariels
zweites Lied (Arielin 2. laulu) (I/8: Zwischenspiel.
Ariels Lied (Välisoitto. Arielin laulu). Ferdinand sitzt am
Strand und trauert in der Überzeugung, dass sein Vater tot sei,
was Ariel mit seinem Lied bestätigt.
Szene
II
Nr.
8, Zwischenspiel (Välisoitto)
(II/4: Prospero).
Die Musik malt das Porträt eines edlen Prospero, danach geht es
mit den Überlebenden weiter. Nr. 9, Der
Eichbaum (Ariel) spielt auf Flöte (Tammipuu (Ariel) soittaa
huilua) ((I/1: Der Eichbaum
(Tammi). Ferdinand trauert in der Überzeugung, dass sein Sohn tot
sei und die anderen verfluchen ihr Schicksal, auf einer
verlassenen Insel gelandet zu sein. Ariel kommt, um auf seiner Flöte
zu spielen, worauf ein Teil der Gesellschaft einschläft. Nr. 10, Ariels
drittes Lied (Arielin 3. laulu). Nachdem die anderen
eingeschlafen sind, haben Antonio und Sebastian vor, Alonso und
Gonzalo umzubringen, aber Ariel kehrt zurück, um diese Tat zu
verhindern. Nr. 11, Zwischenspiel
(Caliban) (Välisoitto) (I/6: Scène). Das Porträt des
Monstrums Caliban, das Prospero zum Sklaven genommen hat. Nr. 12, Stefanos
Lied (Stefanon laulu). Caliban trifft den Narren Trinculo, der
sich vom Schiff gerettet hatte, sowie den trunksüchtigen
Mundschenken Stefano, der mit einem Schlauch in der Hand singt. Nr.
13, Calibans Lied (Calibanin
laulu) (I/3 Calibans Lied).
Nachdem Caliban das „himmlische Getränk“ bekommen hat, glaubt
er, dass Stefano ein Gott wäre und hält ihn für seinen neuen
Herrn.
Szene
III
Nr.
14, Zwischenspiel
(Miranda) (II/7: Miranda). Die Szene fängt mit einem
Zwischenspiel an, in dem das entzückende Wesen von Miranda
geschildert wird. Miranda und Ferdinand haben einander mit
Prosperos Hilfe gefunden. Nr. 15, (I/2: Humoreske)
Stephano, Trinculo und Caliban zanken. Nro
16,
Canon (I/5:
Canon). Die Kumpel
planen die Tötung von Prospero, singen den Kanon und marschieren,
von Ariels Spiel begleitet, davon. Nr. 17, Teufelstanz
(Paholaistanssi) ((II/9: Tanz-Episode
(Tanssikohtaus)). Antonio und Sebastian planen ihrerseits Alonso
zu töten; der spanische Tanz schildert Antonio. Nr. 18, Ariel
als Harpy (Ariel harpyijana) ((I/1: Der
Eichbaum (Tammi), nur Anfangsakkorde)). Die teufelsähnlichen
Kreaturen decken den Tisch für die Geretteten, aber die Mahlzeit
endet, als Ariel in der Gestalt einer Harpyie erscheint und den
Tisch mit seinen Flügeln leer wischt. Nr. 19, Die
Teufel tanzen heraus (Paholaiset tanssivat pois) ((I/4: Die
Herbstmänner (Elonkorjaajat). Die seltsamen Kreaturen bringen
den Tisch weg und entfernen sich tanzend. Nr. 20, Intermezzo
(II/2: Intermezzo).
Alonso bereut seine Taten, weil er glaubt, dass sein Sohn durch
eine Rachetat von Prospero ums Leben gekommen sei.
Szene
IV
Nr.
21, Ariel fliegt herein
(wie Nr. 3) (Ariel lentää paikalle). Prospero gesteht, Fernando
geprüft zu haben, aber jetzt gibt er ihm Miranda zur Frau und
ruft Ariel herbei. Nr. 22, Ariels viertes Lied (Arielin 4. laulu) ((II/5: Lied I (Laulu I)). Auf Prosperos Ersuchen zaubert Ariel ein
Erntefest mit den dazugehörenden Göttinnen für das junge Paar
herbei. Nr. 23, Der
Regenbogen (Sateenkaari) ((I/8: Zwischenspiel.
Ariels Lied (Välisoitto. Arielin laulu). Der Regenbogen
erhellt das Fest zu Ehren der Göttin des Regenbogens, Iris. Nr.
24, Iris’ Melodrama
(Iriksen melodraama). Die Rezitation von Iris wird von
Walzerrhythmen begleitet. Nr. 25, Junos
Lied (Junon laulu). Die Obergöttin Juno wünscht dem jungen
Paar „Reichtum, Liebe, langes Leben, Wohlwollen, Glück und Ruhm“.
Nr. 26, Tanz der Najaden (Najadien tanssi) ((II/3: Tanz der Nymphen (Nymfien tanssi). Die Meerjungfrauen tanzen ein
entzückendes Menuett. Nr. 27, Die
Herbstmänner (Elonkorjaajat) (I/4: Die
Herbstmänner). Die Herbstmänner schließen sich dem Tanz an.
Nr. 28, Ariel fliegt herein
(wie Nr. 3) (Ariel lentää paikalle). Prospero erinnert sich an
den heimtückischen Plan von Caliban und ruft wieder Ariel herbei.
Nr. 29, Ariel eilt fort
(wie Nr.5) (Ariel rientää pois). Prospero befiehlt Ariel hübsche
Kleider zu holen, um die Bösewichte zu verlocken und Ariel eilt
fort. Nr. 30, Ariel fliegt
herein (Ariel lentää paikalle). Ariel kehrt umgehend zurück,
nachdem er den Auftrag ausgeführt hat. Nr. 31, Hunde-Geister
(Koirat) (I/6: Scéne).
Caliban, Stephano und Trinculo wollen Prospero umbringen, aber sie
sind über die feinen Kleidungsstücke sehr entzückt und
probieren sie an, bis die von Prospero aufgehetzten Geister in
Hundegestalt sie fortjagen.
Szene
V
Nr.
31bis., Vorspiel
(Alkusoitto) ((II/6: Lied II
(Laulu II)). Als Einleitung ist das Vorspiel zu hören, das
musikalisch identisch ist mit dem etwas späteren Gesang Ariels
fünftes Lied (Arielin 5. laulu). Nr. 32, (I/7: Intrada).
Prospero in seinem Zaubereranzug beordert Ariel, die verzauberte
Gesellschaft zu befreien. Sein Entschluss die Zauberkräfte
aufzugeben, wird durch „einen wahnsinnigen Klang geschildert,
dem feierliche Musik folgt“. Nr. 33, Ariels
fünftes Lied (Arielin 5. laulu) ((II/6: Lied
II (Laulu II)). Prospero zieht sich wieder das Gewand des
Herzogs von Mailand an und befreit Ariel, worüber dieser sich
freut. Nr. 34, Cortège.
Die Aristokraten und die Verfallenen kommen zu Prospero, der alle
begnadigt. Nach der allgemeinen Vergebung und dem freudigen
Wiedersehen marschiert die ganze Gesellschaft im Takt einer
feierlichen Polonäse zu der Hütte Prosperos. Nr. 34bis., Epilog
(Epilogi).
Sibelius
komponierte für die Aufführung in Helsinki 1927 noch eine majestätisch
resignierende Schlussnummer im Geist der Musik Prosperos.