Jean Sibelius war ein recht guter Pianist, der seine Freunde mit Improvisationsaufführungen bezauberte. Er benutzte das Klavier als Hilfe bei der Tonsetzung, wobei auch eine bedeutende Menge Klavierkompositionen entstanden. Das Klavier blieb jedoch nach der Geige nur sein zweitwichtigstes Instrument. Er war mit den Eigenschaften des Klaviers auch nicht vorbehaltlos zufrieden. „Das Klavier singt nicht“, meinte der Komponist.
Sibelius begann das Klavierspielen zu Hause in Hämeenlinna, noch bevor er in die Schule kam. Als er sieben oder acht Jahre alt war, versuchte man, ihm das Spielen systematischer beizubringen. „Dem kleinen Janne wurde mit einer Stricknadel leicht auf die Finger geschlagen, wenn er sich vor seiner Tante Julia verspielte“, stand später in der Zeitung „Hämeen Sanomat“. Janne weigerte sich auch bald, Klavierstunden zu nehmen. „Das Vergnügen des freien Fantasierens bedeutete mir alles”, erkannte er später.
In den Jünglingsjahren wurde die Geige zu Jannes Hauptinstrument. „Bei uns zu Hause hatten wir ein Tafelklavier, dessen Tonhöhe etwa ¾ zu niedrig war. Meine ganze Welt bestand darin, und als ein neues Klavier angeschafft wurde, das normal gestimmt war, zerbrach alles. Ich verfremdete mich dem Klavier und ging allmählich auf die Geige über“, erinnerte sich Sibelius.
Sibelius entwickelte sich zu einem recht vorzüglichen Geiger, aber auch das Klavierspielen setzte er fort. Es war ein Pflichtfach am Musikinstitut von Helsinki, an dem er sich im Herbst 1885 einschreiben ließ. In seinem ersten Studienjahr erhielt Sibelius die Note „ausgezeichnet“ in den Tontreffübungen im Geigenspielen und in vielen anderen Fächern, aber im Klavierspielen musste er sich mit der Note „befriedigend“ zufrieden geben.
Zu Beginn seiner Komponistenlaufbahn suchte und entwarf Sibelius seine Themen eben auf dem Klavier. In den 1890er Jahren stürzte er fast jedes Mal ans Klavier, wenn er eines sah und fing mit seinen Improvisationen an. „Wenn Sibelius improvisierte, war es sehr wichtig für ihn, ein paar Glas zu trinken – vielleicht von der, von ihm hoch geschätzten Weinmarke Burgunder – denn er war ja Geiger und die technischen Mängel als Pianist bildeten eine gewisse Hemmschwelle für den Auftritt. Wenn er diese Schwelle überwunden hatte, konnte niemand ahnen, dass der improvisierende Sibelius kein bedeutender Pianist war“, erinnerte sich später Georg von Wendt, ein Freund und Schüler von Sibelius.
„Man wurde von diesen wunderschönen Fantasien vom ersten Ton bis zum letzten Akkord so ergriffen, dass die Zuhörer wie betrunken waren. Es ist tief bedauerlich, dass sie nie aufs Notenpapier gelangten. Diejenigen, die Sibelius in den 1890er Jahren fantasieren hörten, haben die größte Schönheit genießen können, die die Musik unserer Zeit hat darbieten können”, bezeugte von Wendt.
Auch Aino Sibelius blieben warme Erinnerungen an Sibelius’ Improvisationen erhalten. „[Er war] in seinen jungen Jahren mit der Klaviatur sehr vertraut. Besonders erinnere ich mich an die großartigen Improvisationen auf dem Klavier, mit denen er seine Zuhörer im Familienkreis und an späten Abenden auch seine Freunde geradezu berauschte. Es war äußerst interessant.“
Während der Jahre in Ainola ab Herbst 1904 setzte Sibelius das Klavierspielen fort. Er konnte zum Beispiel an den geselligen Abenden mit der Künstlergemeinschaft von Tuusula improvisieren und im Familienkreis mit seiner Frau Klassiker vierhändig spielen. Er wollte möglichst viel ohne Hilfe des Klaviers komponieren, aber es gelang nicht ganz. In der Nacht in Ainola waren oft Klavierklänge zu hören, wenn der Komponist seine Ideen ausprobierte.
„Nachtmelodien nannten wir sein leises, nächtliches Spielen, als er komponierte und alle anderen schon schlafengegangen waren. Jene Nächte hatten eine sehr starke Stimmung, die ich noch fühlen kann, wenn ich in meinen Gedanken in die Kindheit zurückkehre“, erzählte Sibelius’ Tochter Margareta Jalas später.
Im Sommer 1914 in den Vereinigten Staaten von Amerika erregte Sibelius großes Aufsehen, nicht nur als Dirigent, sondern auch als geschickter Pianist. „Einigen gerade anwesenden Dirigenten gab er gern seine Tempi”, erinnerte sich Carl Stoeckel. „Er summte Proben vor sich hin oder spielte sie auf dem Klavier, jedoch betonend, dass er kein Pianist wäre, sondern dass er nur wie ein Komponist spielte. Es war jedoch ein sehr feines Spielen, voll von Gefühl, Kraft und Nuancen.“
Sibelius konnte auch als Erwachsener ebenso wie schon als Kind durch Klavierspielen „sprechen”: wurde er als Kind von Familienmitgliedern getadelt, komponierte er Entschuldigungen. Matti Kivekäs hat diese Neigung wie folgt beschrieben:
„Manchmal, mitten im eifrigsten Gespräch, kann er ans Klavier gehen und ein paar Takte spielen. – ‚So, auf diese Weise, das meine ich eben!‘ – sagt er. ‚Die Worte reichen mir nicht; die Musik muss zur Hilfe kommen.‘ Oder wenn er den Frühling und den Fliederduft beschreibt. ‚Ist es nicht genau das?‘ – fragt er, wenn er einen eigenartigen hell klingenden Akkord schlägt.“
Kivekäs erinnerte sich auch, dass Sibelius den jüngsten Töchtern der Familie auch Tanzmusik auf dem Klavier vorspielte.
Sibelius komponierte Dutzende von Klavierminiaturen, den Großteil für einheimische Verleger, um die akute Geldnot zu lindern [siehe Klavierwerke]. ”Ich komponiere in meinen Mußestunden. Tätsächlich interessiert das Klavier mich nicht, denn es kann nicht singen”, sagte er im Jahre 1916 laut Bengt von Törne. Eben zu diesem Zeitpunkt war Sibelius gezwungen, in seiner Geldnot besonders viele Klavierminiaturen zu komponieren.
Dennoch setzte er das Klavierspielen bis ins Greisenalter fort. Die einzige Aufnahme mit Sibelius als Pianisten findet sich als Hintergrundmusik in einem Stummfilm, die, wenigstens nach dem Pianisten Olli Mustonen, den natürlichen Griff des Komponisten am Klavier vermittelt.
Der Violinist Isaac Stern war einer der letzten Musiker, der Sibelius am Piano spielen hörte. 1951 spielte Stern das Violinkonzert in Ainola so, dass der Komponist ein unsichtbares Orchester dirigierte und den orchestralen Teil zeitweise auf dem Klavier spielte. „Sein Klavierspiel war – brauchbar”, schmunzelte Stern später.
Die Enkelkinder konnten das Spielen ihres Opas hauptsächlich zu Weihnachten hören, wenn der Komponist seine eigenen Weihnachtslieder mit starkem Griff und viel Pedal aufführte. „Der Opa spielte mächtig Hoch sind die Schneewehen. Es war eine Tradition“, erinnert sich Laura Enckell, die Tochter von Ruth Snellman.
”Die Kinder mussten in das dunkle Kinderzimmer und wurden dann in den Saal gerufen, wo der Weihnachtsbaum stand und alle Lichter strahlten. Es sollte einen mit all seinem Glanz blenden. Er spielte Hoch sind die Schneewehen und spielte es so laut, das Pedal unten, wie an der Orgel. Es war, als ob er ein Orchester auch dort hätte haben müssen. Wir sangen das Lied und dann sangen wir die Weihnachtsweise. Dies alles war mit viel Freude erfüllt. Nichts Andächtiges oder Düsteres.