Jean Sibelius’ Laufbahn als Lehrer begann im Herbst 1891 in Loviisa, als er eine Zeitungsanzeige aufgab und daraufhin einige Privatschüler erhielt.
Zu diesem Zeitpunkt war Sibelius einer der vielversprechendsten Komponisten in Finnland. In Loviisa wusste man von Jannes Qualifikationen als Violinist und von seinen Studien in Berlin und Wien. Durch Geigenstunden und Unterricht in Musiktheorie gelang es Sibelius auch ein wenig zu verdienen. Es gab sogar genug Schüler, um ein kleines Schülerorchester für ein paar Monate auf die Beine zu stellen.
Diese Lehrtätigkeit endete spätestens im Januar 1892, als der Komponist nach Helsinki umzog. Aber im Frühjahr wurde Kullervo fertiggestellt und im Sommer die Hochzeit vorbereitet und anschließend ging es auf Hochzeitsreise.
Im Herbst 1892 bezog Sibelius mit seiner Frau die erste gemeinsame Wohnung in Helsinki. Er hatte sowohl am Musikinstitut als auch an Kajanus’ Orchesterschule ein Amt bekommen. Gegen geringes Entgelt unterrichtete Sibelius bis zu 30 Stunden pro Woche Geigenspiel und Musiktheorie. Es gab die unterschiedlichsten Schüler. Einigen konnte Sibelius nur die Grundkenntnisse der Theorie beibringen, aber mit anderen, zum Beispiel mit Otto Kotilainen und Axel Törnudd, konnte er schnelle Fortschritte erzielen. Kotilainen erinnerte sich später ausführlich an seinen Lehrer:
„Es wäre natürlich falsch zu sagen, dass er sich nicht um die Regeln kümmerte, keineswegs aber war er ein Freund des strengen Stils. Wenn die Tonfolgen und Klangläufe gut klangen und der Gesamteindruck auch sonst gelungen war, erwähnte er oft nur kurz die Anforderungen der Regeln und zollte auf diese Weise auch dem Geschmack des Schülers Respekt. ‚Ich habe auch selbst mit den strengen Regeln kämpfen müssen’, sagte er einmal während einer Lektion.
„Man ging die ‚Musiklehre und Analyse I‘ von Wegelius gründlich durch, mit all ihren Skalen, Intervallen, Klängen, fremden Tönen, mit nur wenig Text, aber desto mehr Beispiele für alles Mögliche. Wir hörten die Obertöne. Er riss den Flügeldeckel auf, drückte das Pedal und schlug stark einen niedrigen Ton. Und so war man ganz Auge und Ohr und hörte zu. ‚Auf dem Land habe ich manchmal‛, sagte mein Lehrer, ‚die Obertöne im Roggenfeld gehört, als ich am Ackerrain lag’. Ich nickte, um ihn davon zu überzeugen, dass ich ihm glaubte.”
„In dieser Lektion schaffte er es auch, ein wenig verschiedene Instrumente zu behandeln. Unter anderem fragte er: ‚Spielen Sie Flöte? ‛ und als ich verneinte, setzte mein Lehrer fort: ‚Sie lügt und je höher sie steigt, desto mehr lügt sie, ,flöjta’ und daher kommt auch ihr Name!’. Und ich glaubte ihm.”
„Mein Lehrer ging ein bisschen herum und rauchte. ,Haben Sie je Generalbass geschrieben?’ ,Ja, auf eigene Faust’, antwortete ich. Und weil ich das Buch bei mir hatte, markierte er eine große Menge Übungen aus verschiedenen Kapiteln und wies mich an, sie zu schreiben. Er selbst zog sich zurück und ging für eine Weile in die Stadt. Nach etwa einer Stunde kam er zurück, und ich hatte schon fast alle Übungen geschrieben. Stirnrunzelnd betrachtete er sie, markierte einige Stellen, stellte fest, dass die Stimmführung auf diese und jene Weise besser wäre, aber es auch so richtig wäre.”
„Ich habe bei der Schilderung des obigen Falles – es dauerte zu guter Letzt wohl etwa drei Stunden – deshalb verweilt, weil es sich eigentlich um meine Aufnahmeprüfung als Sibelius’ Schüler handelte. Es war ein richtiger Wirbelsturm an Theorie, und danach erörteten wir die sog. Allgemeine Musiklehre als eigentliches Lehrfach nicht mehr. Während die jungen Damen bei ihren Grundstudien schwitzten, fing ich an, während dieser Lektionen in aller Stille Harmonien und später auch Kontrapunkt zu schreiben, was ich dann ununterbrochen fortsetzte, bis ich mit meinem Meisterlehrer an die Orchesterschule zog. Ich hatte nämlich am Musikinstitut schon die sog. Pflichtfächer absolviert. An der Orchesterschule fing ich an, neben Harmonie und Kontrapunkt eigene Kompositionen auszuprobieren, erst Chor- und Sologesänge und später auch kleine Stücke für Orchester. Sibelius war die ganze Zeit mein Lehrer, d. h. mehrere Jahre lang. Wenn ich an diese Unterrichtsstunden denke, werde ich von fröhlichen und warmen Erinnerungen immer wieder erfüllt. Wie er seinen Schüler ermunterte und antrieb! Seine Bemerkungen und Ratschläge trafen immer den Nagel auf den Kopf, wenn ich ihm meine Kompositionen zeigte und wir sie gemeinsam durchgingen. Nie brauchte er ein Instrument, sondern er las die Kompositionen – mit den berühmten Furchen auf seiner Stirn – durch und wenn er fertig war, zeigte er, wo Schwachstellen wären, die bis zum nächsten Mal abgeändert und verbessert werden sollten.”
Axel Törnudd, der im Herbst 1892 sein zweites Studienjahr begann, war einer von Sibelius‘ Schülern. Törnudds Erinnerungen an Sibelius sind gleich beeindruckend:
„Sein ständiger Rat lautete: ‚Komponieren Sie einfach! Je einfacher, desto besser. Denken Sie an Palestrina, wie durchschimmernd klar seine Musik doch ist! Ich bin bestrebt, allergrößte Schlichtheit zu erreichen.”
„Das waren merkwürdige Worte aus dem Mund des Komponisten von Kullervo! Der Meister des Chaos predigte durchschimmernde Schlichtheit! Ich muss gestehen, dass ich manchmal in meinen Bart hineinlachte (obwohl ich keinen hatte), als ich an den Rat und dessen Geber dachte. Ich zweifelte keinen Augenblick an der Aufrichtigkeit des Meisters, als er so etwas aussprach, aber ich war erstaunt, wie dieser Titan, dessen Blut ständig aufwallte, danach strebte. Und darüber wunderte ich mich viele Jahre lang.”
1894 unterrichtete Sibelius als Stellvertreter des Musiklehrers der Universität, Richard Faltin, was eine beträchtliche Menge an zusätzlichen Unterrichtsstunden bedeutet. Als Faltin älter wurde, häuften sich diese Vertretungen für Sibelius, aber auch für Kajanus. Gleichzeitig begann er auch, zeitweilige Beurlaubungen von seinen anderen Lehrertätigkeiten zu beantragen. Schließlich bewarb er sich um das Amt von Faltin und hielt seine Probevorlesung über den Einfluss der Volksmusik auf die Tonkunst. Er wurde im Frühjahr 1897 in dieses Amt berufen, obwohl auch Kajanus und Ilmari Krohn sich beworben hatten. Robert Kajanus reichte eine Beschwerde ein und der Beschluss wurde widerrufen. Die Beschwerde erschütterte Sibelius, und danach war er immer misstrauisch seinem Freund Robert Kajanus gegenüber, obwohl er weiterhin in der Öffentlichkeit nur gut über ihn redete.
Gegen Ende des Jahres 1897 bewilligte der Zar ein jährliches Künstlerstipendium, das Sibelius für zehn weitere Jahre gewährt wurde. Sibelius vermutete später, dass Kajanus ihm diese Unterstützung als Ersatz für die an ihn verlorene Stelle als Musiklehrer an der Universität beschafft hatte.
Das Stipendium machte etwa die Hälfte des Gehalts eines Professors aus. In der ersten Zehnjahresperiode entsprach sie etwa dem Wert von heute 11 000 Euro. Das Stipendium löste Sibelius’ wirtschaftliche Probleme nicht und so arbeitete er noch um die Jahrhundertwende als Lehrer. Er gab zum Beispiel Musikstunden zu Hause in Kerava, wie Otto Kotilainen sich erinnerte.
„Oft begab ich mich ins Haus des Meisters, um neben den Studien an der Orchesterschule bei ihm Lektionen zu nehmen. Besonders erinnere mich in diesem Zusammenhang an die Zeiten, wo die Familie Sibelius im Haus Mattila, in der Nähe des Bahnhofs von Kerava wohnte und ich sie, die ganze Winterperiode über, beinahe wöchentlich besuchte. Dort saß der Meister normalerweise an seinem Schreibtisch, von dickem Zigarrenqualm umgeben, seine Entwürfe bearbeitend, Partiturblätter kunterbunt durcheinander auf dem Tisch und sicher auch unter dem Tisch. Aber nie bemerkte ich einen Ausdruck, nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass ich ungelegen gekommen wäre, sondern immer hat er mich willkommen geheißen, indem er seine eigene Arbeit unterbrach (…) Ich hatte einige kleine Stücke für ein Streichorchester geschrieben, von denen einige schon bei den öffentlichen Proben der Orchesterschule aufgeführt worden waren. Mein Lehrer legte mir nahe, auf seine ermutigende und anspornende Art, mich an einem umfassenderen Werk für ein ganzes Orchester zu versuchen. ‚Spring nur in den See und du wirst schwimmen lernen’, spornte er mich an.”
Sibelius stand dem Kreis der Orchesterschule noch 1903 nahe, als sein Freund Axel Carpelan ihm den Umzug aufs Land nahelegte: weg von den Versuchungen des Stadtlebens. Nach Carpelans Meinung spielte dabei das Einkommen, das Sibelius aus seiner Tätigkeit an der Orchesterschule bezog, nur eine untergeordnete Rolle, weil der Komponist auf jeden Fall schon sehr viel unbezahlte Beurlaubung in Anspruch nahm. Für die Zeit der Bauarbeiten an Ainola wurde auch Sibelius‘ Unterrichtstätigkeit für ein paar Jahre lang beinahe ganz unterbrochen.
Am 22. März 1906 starb Sibelius’ eigener Lehrer, Martin Wegelius, und Armas Järnefelt wurde Leiter des Musikinstituts. Diesem gelang es, Sibelius als Lehrer für Theorie und Komposition am Institut zurückzugewinnen. Sibelius‘ wichtigste Schüler waren Toivo Kuula, der während des Frühjahrs 1908 sein vortreffliches Klaviertrio vollendete und Leevi Madetoja, der im Herbst 1908 als Schüler von Sibelius aufgenommen worden war. Madetoja zufolge leitete Sibelius seine erste in Ainola gehaltene Stunde mit der Behauptung ein, dass er ein „schlechter Lehrer“ wäre.
„Ach, wer ist denn ein schlechter und wer ein guter Lehrer?” fragt Madetoja später. „Es dürfte in den meisten Fällen darauf ankommen, in welchem Umfang sich eine Wechselwirkung zwischen Lehrer und Schüler entwickelt. Und ich muss sagen, dass schon mein erster Besuch bei meinem Meister mich sehr bereichert hat. Kein Unterricht im eng pädagogischen Sinn, sondern nur kurze, treffende Bemerkungen.“
Diese Unterrichtsperiode ging allmählich zu Ende, obschon die Freundschaft und die gegenseitige Hilfeleistung sich fortsetzten. Noch im Frühjahr 1916 nahm Sibelius Bengt von Törne als Privatschüler auf. „Sie verstehen, dass ich im eigentlichen Sinne des Wortes gar nicht unterrichte und Ihnen keine normalen Stunden geben kann“, erinnerte Sibelius ihn. „Außerdem weiß ich nicht, ob ich ein guter Lehrer bin oder nicht; ich glaube, je besser man als Komponist ist, desto schlechter wird man als Lehrer. Auf jeden Fall kann ich Ihnen einige Hinweise geben, die Sie nicht in den Handbüchern für Orchesterinstrumentation finden und ich kann Ihnen von Erfahrungen erzählen, die ich selbst gemacht habe.“
Bengt von Törne erinnerte sich in seinem Büchlein „Sibelius: A close up“ ausführlich an die Stunden. Im Büchlein betonte von Törne die Aussage von Sibelius, dass er in der Orchestration Brüche vermeiden müsse. Er sagte, dass er den „Pedaleindruck“ bevorzugte, wenn man von einer Instrumentfarbengruppe in eine andere überginge. „Ich setze immer einige zweite Violinen oder Violas auf das Mittelgebiet hinzu, in dem es sonst keine charakteristische Instrumentenfarbe gibt. Sie hören eigentlich nur die Bläser, der Klang aber geht trotzdem weiter.“
Der Lehrer verstand seinen Schüler auch zu ermutigen. „Bis jetzt haben ihre Partituren zu viel an Schuberts Klavierstil erinnert. Das ist ein ganz gewöhnlicher Fehler bei den ersten Versuchen junger Komponisten. Hier ist es aber anders; diese Partitur hat offene Zwischenräume und es scheint mir, als ob frische Luft durch diese Fenster hineinströmt. Dieses Mal haben Sie Lebendiges geschaffen und freie Sicht nach allen Seiten gelassen“, lobte er in einer Stunde.
Sibelius wollte von Törne bloß ein paar Monate lang unterrichten. Er war sich bewusst, dass ein Lehrer mit starker Persönlichkeit die Selbständigkeit des Schülers erdrücken kann.
Nach von Törne ermutigte Sibelius mehrere Komponisten und half ihnen mit Anweisungen. Ab 1916 gab er aber vermutlich keinen eigentlichen Unterricht mehr. Einige Schlüsselideen wiederholte er jedoch immer wieder. Als ein Radioreporter ihn in den 1940er Jahren nach Ratschlägen für einen jungen Komponisten fragte, wiederholte er, was er Madetoja schon im Herbst 1908 gesagt hatte: „Keine unnötigen Noten. Jede Note muss leben.“
Als Lehrer schuf Sibelius keine eigene Schule wie etwa Arnold Schönberg, aber das hatte er auch nie angestrebt. In den Kompositionen von Leevi Madetoja kann man sicher auch „sibelianische“ Züge finden, aber im Bild von Sibelius als Lehrer scheinen Impulsivität und das Vermögen zu begeistern die charakteristischsten Eigenschaften zu sein. Sibelius scheint nach seinem Lehrervorbild Karl Goldmark, seinem Lehrer in Wien, geraten zu sein und nicht so sehr nach Albert Becker, der ihm in Berlin in echt straffem Exerzierstil Unterricht erteilte.
Sibelius war als Lehrer am besten, als der Schüler schon komponieren konnte und nur Anweisungen von einem erfahreneren Augenpaar benötigte. Seine Lehrtechnik war für Übungen mit Anfängern recht ungeeignet, aber er war imstande, seinen Schülern leidenschaftliche, künstlerische Unnachgiebigkeit einzuimpfen.