Op. 52 Symphonie Nr. 3
C-dur: 1. Allegro moderato, 2. Andantino con moto, quasi allegretto, 3. Moderato – Allegro ma non tanto. Vollendet 1907; Uraufführung am 25.09.1907 in Helsinki (Orchester der Philharmonischen Gesellschaft Helsinki, Dirigent Jean Sibelius).
Sibelius’ Symphonie Nr. 3 ist für klassischer gehalten worden als die früheren Werke und so kann man zum Beispiel nach Ansicht des Forschers Gerald Abraham den Anfang der Symphonie sehr gut mit den ersten Sätzen der Symphonien von Haydn und Mozart vergleichen. Desto seltsamer mag es scheinen, dass die Kompositionsgeschichte der Symphonie sich als sehr kompliziert erwiesen hat.
Schon in den ersten Takten der Symphonie kann man den Einfluss der finnischen Volksmusik erkennen, und Sibelius hatte auch für dieses Werk programmatische Impulse. Im Januar 1906 spielte Sibelius nach einem beschwingten Abend in Paris für den Maler Oscar Parviainen drei Themen: Trauermarsch (Surumarssi), Gebet an Gott (Rukous Jumalalle) und Großes Fest (Suuri juhla). Der Forscher Markku Hartikainen hat nachgewiesen, dass diese Themata höchstwahrscheinlich mit dem Libretto des Marjatta-Oratoriums von Jalmari Finne zu tun haben, das Sibelius trotz mehrerer Versuche nicht vollenden konnte. Das Thema ‚Gebet an Gott’ fand letztendlich dennoch seinen Weg als Hymnenthema in das Finale der Symphonie Nr. 3 – und an die Wand von Ainola, denn das Thema inspirierte Oscar Parviainen, ein Bild für Sibelius zu malen.
1906 vollendete Sibelius die symphonische Dichtung Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär), in deren Entwürfen auch Materialien für die Symphonie Nr. 3 gefunden wurden. Auf diese Weise hat die als absolute Musik aufgenommene Symphonie, wie bei Sibelius üblich, den ersten Anstoß von verschiedenen programmatischen Ideen bekommen, die jedoch im Laufe des Kompositionsprozesses ihre programmatische Bedeutung verloren hatten, als das Material nach rein musikalischen Kriterien bearbeitet wurde.
Sibelius dirigierte die Uraufführung am 25. September 1907. Die Rezensionen waren widersprüchlich: Karl Flodin lobte das Werk, aber es wurde zum Beispiel in „Helsingin Sanomat“ festgestellt, dass der unmittelbare Eindruck nicht so stark gewesen sei, wie bei der Symphonie Nr. 1.
Stilistisch näherte Sibelius sich jetzt den Gedanken seines Freundes Ferruccio Busoni, der etwas später darüber schrieb, was neoklassizistische Musik sein könnte. Sibelius’ Symphonie Nr. 3 ist kompakter als seine früheren Werke. Sätze gibt es jetzt drei statt vier, weil das Scherzo und das Finale sich organischer vereinigen als in der Symphonie Nr. 2.
Romantik wird durch neue Sachlichkeit ersetzt, und die Orchestration ist leichter als vorher, weil zum Beispiel die Tuba und die Harfe wegbleiben. Sibelius erwähnte in seinen alten Tagen, dass die Symphonie Nr. 3 von einem Orchester aufgeführt werden sollte, das weniger als 50 Mann umfasst.
Der Rhythmus wird sogar zeitweise ein gleichwertiger Faktor mit dem melodischen Material. So kam Sibelius sogar den rhythmischen Geistesprodukten von Strawinskis Die Frühlingsweihe (Le sacre du printemps) zuvor.
Die Symphonie beginnt mit dem schlüssigen Hauptthema der Streichinstrumente, Violoncelli und Bässe. Weil es keine harmonische Grundlage gibt, kann die scheinbar in C-Dur laufende Melodie auch für einen Anklang an die Melodien aus dem Kalevala (Kalevala) gehalten werden, die Sibelius während seiner Runensammelreise 1892 aufschrieb.
Notenbeispiel 13
Die Musik fängt überraschend an, in fis- und b-Noten zu wandeln, inmitten des leicht vorgekommenen C-Dur. Sibelius macht einen seiner spannenden Taschenspielertricks, wenn das Hauptthema sich in den c-d-e-Tonfall mit Waldhörnern zuspitzt. Die Fortsetzung wird überraschend in Fis gespielt, was das Violoncello dazu führt, das Seitenthema in h-Moll vorzustellen. Nach den mystischen Stimmungen tönt der erste Satz forsch wie ein Strom der temperamentvollen Sechzehntelnoten, während das Haupt- und Seitenthema andauernde Metamorphosen durchleben. Sibelius selbst sprach von „einem fortschreitenden Zwang“, der seine Symphonien zusammenhält.
Der langsame Satz (Andantino con moto, quasi allegretto) war nach Meinung des Komponisten langsamer, als die Tempobezeichnung vermuten lässt. Das richtige Tempo wird wohl auf der von Robert Kajanus dirigierten Aufnahme zu finden sein. Der Satz beginnt wie ein einfaches Volkslied, und der georgische Pianist Aleksandr Toradze hat darauf hingewiesen, dass eine ähnliche Melodie auch in der Musik seiner Heimat zu finden ist.
Notenbeispiel 14
Die Einfachheit des langsamen Satzes ist scheinbar: Die Form ist so vieldeutig, dass Forscher darin zum Beispiel eine Suite mit Variationen, ein Rondo und Züge eines sonatenförmigen Satzes gefunden haben. Das Thema tritt vier Mal in unterschiedlichem Licht auf. Die erste Motivgruppe beinhaltet nachdenkliche, beinahe andächtige Stimmungen der Violoncelli. Wenn das Thema zum zweiten Mal verschwindet, kündigen die Terzen schon die spannende Welt des dritten Satzes an.
Der dritte Satz ist bis jetzt harmonisch das Furchtloseste, was Sibelius komponiert hat. Der Komponist selbst hat den Satz als „die Kristallisierung des Gedankens aus dem Chaos“ bezeichnet. „Das Chaos“ des Anfangs ist ein anhaltendes Spiel der wechselnden Motive und Tempi, in dem Vergangenheit und Zukunft der Symphonie gleichzeitig anwesend sind. Nur die besten Dirigenten können in der Mitte des Finales das Gefühl der Unumgänglichkeit hervorbringen, wenn das Hymnenthema allmählich hervortritt und das Chaos zurückweicht. Die Hymne bricht mit der Tempobezeichnung allegro, con energia durch:
Notenbeispiel 15
Die Hymne wird stilvoll stärker, ohne romantische Übertreibung. Ist die Symphonie deshalb, neben der Symphonie Nr. 6, die am wenigsten gespielte und am wenigsten verehrte?
Aber wenn die Symphonie Nr. 3 diejenigen enttäuschte, die auf das Pathos der Symphonie Nr. 1 oder auf den Heroismus der Symphonie Nr. 2 gewartet hatten, dann hätte die Symphonie Nr. 4 die Welt noch mehr zum Staunen gebracht.
Zitate über die Symphonie Nr. 3
„Die Symphonie erfüllt alle Anforderungen, die heute an ein symphonisches Kunstwerk gestellt werden können, aber sie ist gleichzeitig innerlich neu und revolutionär – durch und durch sibelianisch.“ Karl Flodin, Kritiker 1907
„Als Rimsky Korsakov meine Symphonie Nr. 3 hörte, schüttelte er den Kopf und sagte: ‚Warum komponieren Sie es nicht so, wie es Art ist? Sie werden sehen, dass das Publikum hier nicht mitkommt und nichts versteht’. Und jetzt bin ich sicher, dass meine Symphonien mehr gespielt werden als seine.“ Jean Sibelius, 1940
„Die Symphonie Nr. 3 war eine Enttäuschung für das Publikum, denn alle erwarteten etwas Ähnliches wie die Symphonie Nr. 2. Ich sprach darüber mit Gustav Mahler, als er mich besuchte und auch er stellte fest, dass ‚man mit jeder neuen Symphonie Diejenigen verliert, die man mit den vorangegangenen gewonnen hat’.“ Jean Sibelius, 1943
„Von der Symphonie Nr. 3 an ändert sich Sibelius und wird internationaler, ‚ein europäisch-klassischer’ Komponist.“ Erik Tawaststjerna, Forscher 1971
„Mit der Symphonie Nr. 3 fing Sibelius an, die große Tradition der Symphonie entscheidend weiter zu entwickeln.“ Erkki Salmenhaara, Forscher 1984
„Der Anfang der Symphonie erinnert mich an diesen finnlandschwedischen Gentleman auf seinem geschäftigen Morgenspaziergang.“ Der Komponist Einojuhani Rautavaara in einem Interview, den Anfang der Symphonie mit einem Finger spielend, 1995
„Mit der Symphonie Nr. 3 stand Sibelius an einem Scheideweg. Nach der wilden Symphonie Nr. 1 und der leidenschaftlichen Symphonie Nr. 2 entdeckte er etwas Neues: eine Art Klarheit wie in der Wiener Klassik. Die Dritte wird nicht immer geschätzt, aber ich mag sie besonders gern.“ Osmo Vänskä, Dirigent 1998
”Die Symphonie Nr. 3 hat ein vollkommen neues, symphonisches Konzept. Manche empfinden, dass das Werk ein irritierend rhythmisches Tempo hat. Er suchte vielleicht nach der britisch geschäftigen Lebenseinstellung.“ Jukka Pekka Saraste, Dirigent 2002