01. Symphonie Nr. 1 op. 39 (1899-1900)

01. Symphonie Nr. 1 op. 39 (1899-1900)

Op. 39 Symphonie Nr. 1 e-moll, 1. Fassung 1899: 1. Allegro, 2. Andante, 3. Scherzo, 4. Finale (quasi una fantasia), Erstaufführung am 26. April 1899 in Helsinki (Orchester der Philharmonischen Gesellschaft, Dirigent Jean Sibelius). Endgültige Fassung 1900: 1. Andante ma non troppo – Allegro energico, 2. Andante (ma non troppo lento), 3. Scherzo (allegro), 4. Finale (quasi una fantasia), Erstaufführung am 1. Juli 1900 in Helsinki (Orchester der Philharmonischen Gesellschaft, Robert Kajanus).

Schon im Frühling 1898 begann Sibelius das Werk in Berlin zu planen. Sein erster Entwurf „eines musikalischen Dialogs“ beinhaltete eine programmatische Idee, in der das Motto des I. Satzes „Vom Meer weht ein kalter, kalter Wind“ gewesen wäre, der II. Satz seine Inspiration von Heine bekommen hätte: „Die Kiefer des Nordens träumt von der Palme des Südens“, der III. Satz wäre eine „Winterliche Geschichte“ gewesen und der IV. Satz „Jormas Himmel“, was auf den 1897 veröffentlichten Roman Panu von Juhani Aho hinweist. Dieser Plan wurde nicht realisiert und zeigte offensichtlich keinerlei Wirkung beim Komponieren der Symphonie Nr. 1. In demselben Entwurfheft gibt es jedoch entzückte Hinweise auf Berlioz und einer der mit „Berlioz?“ bezeichneten Entwürfe gelangte auch in das Finale der Symphonie Nr. 1.

Sibelius vollendete die Symphonie im Frühling 1899 in einer politisch explosiven Situation. Das vom russischen Zaren erlassene Februarmanifest war ein Versuch, die Autonomie des Großfürstentums Finnland einzuschränken, und Sibelius antwortete mit mehreren Protestkompositionen. Gesang der Athener (Athenarnes sång, Ateenalaisten laulu) wurde am 26. April 1899 zum ersten Mal aufgeführt und zwar in einem Konzert zusammen mit der Symphonie Nr. 1, die anfänglich Symphonie e-Moll oder Symphonie in vier Sätzen genannt wurde.

Gesang der Athener versetzte das Publikum in Begeisterung (Athenarnes sång, Ateenalaisten laulu), die Kritiker aber nahmen natürlich auch die Symphonie als Musikwerk wahr. „Die größte Komposition, die Sibelius geschaffen hat“, schrieb Oskar Merikanto von „Päivälehti“.

Sibelius war nicht vollkommen zufrieden mit seiner Symphonie, deren ursprüngliche Fassung nicht mehr vorliegt. Er überarbeitete das Werk im Frühling und im Sommer 1900 für die Europa-Tournee, die Sibelius’ Freund Robert Kajanus mit seinem Orchester vorhatte. Die Stimmung war düster, denn die dritte Tochter Kirsti der Familie Sibelius war an einer Krankheit im Alter von etwas über einem Jahr gestorben, und Gemahlin Aino trauerte um ihre Tochter so sehr, dass sie krank wurde.

Die Umgestaltung lohnte sich allerdings. Die Symphonie Nr. 1 wurde im Sommer 1900 auf der Tournee zu Sibelius’ internationalem Durchbruchswerk, das die Kritiker in Stockholm, Kopenhagen, Hamburg, Berlin und zum Teil auch in Paris lobten. Der Einfluss von Tschaikowski fiel auf, aber vor allem wurde in der Komposition ein neuartiger, hinreißender Komponist erkannt: „Seine Symphonie, ein Werk, voll von ungehemmter Kraft, voll von leidenschaftlicher Lebhaftigkeit und erstaunlicher Waghalsigkeit, ist – um es einfach zu sagen – eine bemerkenswerte Komposition, die neue Wege vorzeichnet, oder besser gesagt, ist wie ein berauschter Gott, der vorwärts stürmt“, schrieb Ferdinand Pfol von den Hamburger Nachrichten.

Der Anfang des Werkes ist einer der originellsten in der Geschichte der Symphonien. Das Klarinettensolo strahlt ein Gefühl der Öde aus, das noch zeitweise mit dem leisen Gedröhne der Pauken im Tempo Andante, ma non troppo, betont wird.

Das Orchester tritt im allegro energico Tempo hervor: zuerst mit großem Terz g-h und dann stürmend zu dem Hauptthema selbst, das der Einleitung der Symphonie Es-Dur von Borodin sehr ähnlich ist. Man kann wirklich fühlen, wie die Musik „wie ein berauschter Gott“ vorwärts stürmt – schwebend zwischen G-Dur und e-Moll.

Der Reichtum der Motive im ersten Satz berauscht auch den Zuhörer. Das melancholische Thema, das oft als Nebenthema bezeichnet wird, liegt auf dem langen Orgelpunkt fis und ähnelt dem Hauptthema überraschend stark.

Solche Lösungen – und die dem Nebenthema folgende, rhapsodisch wirkende Entwicklung – führten dazu, dass mitteleuropäische Analytiker zu ihrer Zeit vermuteten, dass Sibelius seine aphoristischen Einfälle mit Orgelpunkten zusammenklebte, ohne ausreichendes kontrapunktisches Können und ohne Beherrschung der Form. Forscher haben aber schon früh nachweisen können, dass auch die lose wirkenden Elemente des Satzes auf die Klarinetteneinleitung des Anfangs zurückgeführt werden können. „So ist die innere Kompaktheit der Thematik der Symphonie maximal“, freut sich Veijo Murtomäki in seiner Dissertation Sinfoninen ykseys (Symphonische Einheit). Der englische Sibelius-Forscher Robert Layton hat den Satz sogar als „eine Kraftleistung des symphonischen Einheitsdenkens“ bezeichnet.

Der Aufbau des ersten Satzes ist glänzend orchestriert. Aber gleichzeitig will Sibelius schon seine Ausdrucksweise in seinem Formdenken verdichten: Das Ende der Entwicklung vereinigt sich mit dem Anfang der Wiederaufnahme. Der Satz endet mysteriös mit zwei Pizzicato-Klängen.

Der zweite Satz (Andante) beginnt mit einer gelassenen Melodie auf langem Orgelpunkt es. Jetzt schwebt die Musik aufregend zwischen Es-Dur und c-Moll.

Sibelius beginnt das Material immer dramatischer zu bearbeiten. Das Thema für das Fagott stammt aus der Einleitung des ersten Satzes. Der Übergang mit den Hörnern ist vom Nebenthema des ersten Satzes abgeleitet, und bald zwitschern die Flöten dem Motiv des ersten Satzes gleichend, das Erik Tawaststjerna „Vogelgezwitscher“ nannte. Aus diesen Materialien entwickelt der Komponist einen richtigen Orchestersturm – inmitten des langsamen Satzes! Wenn der Sturm nachlässt, kehrt das Hauptthema zurück und der Satz setzt sich wieder in seinen Rahmen. Der dritte Satz, Scherzo, fängt mit den Pizzicatos der Violinen an. Die Pauke schlägt das Hauptthema hervor wie aus einer Kanone.

Holzblasinstrumente führen zum Thema der Violinen, das einen überraschend tanzartigen Charakter hat, und bald stürzt man sich in das fugatoähnliche Spiel. Das Trio der Hörner und Flöten führt Naturstimmungen vor, ähnlich wie bei Bruckner. Wenn das Haupthema zurückkehrt, wird der Satz schlüssig zu Ende gebracht. Im Finale (Quasi una fantasia) kehrt die Klarinetteneinleitung des ersten Satzes zurück, jetzt leidenschaftlich orchestriert.

Die Flöten vervollständigen alleine dieses „Schicksalsthema“, aber das mythische Urzwielicht des ersten Satzes hat sich jetzt in ein Klangbild einer zerstörten Landschaft nach einer Katastrophe verwandelt.

Es gibt in der Symphonie ähnliche Zyklenartigkeit wie in Tschaikowskis letzten Symphonien, aber Sibelius bleibt nicht bei seinem Schicksalsthema hängen: Die Rückkehr der Einleitung stimuliert im Gegenteil das zackige Thema (allegro molto) und dessen wehmütigen Gegenpart (andante assai), der zu den unsterblichen Melodien von Sibelius gehört.

 

Nie wieder würde Sibelius’ Orchester pathetischer und prachtvoller klingen. Am Ende der Symphonie wird die Zyklenartigkeit betont, wenn die im ersten Satz entstandenen Fragen beantwortet werden, und das Werk mit zwei Pizzicato-Klängen endet, genau wie der erste Satz.

Die Symphonie Nr. 1 ist seit ihrer Uraufführung beliebt geblieben. Sie ist Sibelius’ überragender und selbstsicherer Abschied vom 19. Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert brachte neue Herausforderungen mit sich und Sibelius war durchaus bereit, sie entgegenzunehmen.

Zitate zur Symphonie Nr. 1

„Das Werk ist die Musik eines jungen Riesen, voll von leidenschaftlicher Liebe zum Vaterland und flammender Bedrohung in Richtung Gegnern. Die Symphonie kann gewissermaßen wie ein überirdisches Gegenstück zu Finlandia betrachtet werden. Beide Kompositionen sind gleicherweise Loblieder für das geliebte Vaterland, das sich in bedrängter Lage befindet.“ Simon Parmet, Dirigent 1955

„Die Symphonie Nr. 1 bedeutete in erster Linie das Antreten des Erbes der spätromantischen Symphonie“. Veijo Murtomäki, Forscher 1990

„Die Symphonie Nr. 1 ist die energische Musik eines jungen Mannes. Der junge Sibelius war kein Angsthase, sondern die ganze Unbändigkeit und Wildheit des Mannes ist in seiner Musik enthalten. Osmo Vänskä, Dirigent 1998

„In der Symphonie Nr. 1 (1899) ist das gewaltige, überschäumende Gefühl „ICH VERDAMMT NOCH MAL!“ deutlich zu hören.“ Jukka-Pekka Saraste, Dirigent 2002