Op. 55 Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu), Tondichtung für Orchester. Vollendet 1908, Erstaufführung am 31. Januar 1909 in St. Petersburg (Dirigent Alexander Siloti).
„Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang. Auf dem Pferd von Suojärvi nach Värtsilä – im Mondschein durch die nächtliche Einöde.“
So knapp hatte der Dirigent Jussi Jalas im Juli 1942 die Enthüllung von Sibelius notiert, als dieser den programmatischen Ursprung seiner 1909 uraufgeführten Tondichtung erzählte. Sibelius war im Sommer 1892 nach Värtsilä geritten, als er auf der Reise war, um Runen in Karelien zu sammeln. Die nächtliche Stimmung hatte schon lange in seinem Unterbewusstsein gebrütet. Suojärvi und Värtsilä liegen sehr weit voneinander entfernt und daher hat der Musikwissenschaftler Markku Hartikainen vermutet, dass der nächtliche Ritt Sibelius viel wahrscheinlicher von Soanlahti nach Värtsilä geführt hatte.
Sibelius mag auch andere Impulse bekommen haben. Er skizzierte das Grundmotiv der Komposition schon im Frühjahr 1901 in Rom, als er seiner Erinnerung nach das Kolosseum im Mondschein gesehen hatte. Der Sekretär von Sibelius, Santeri Levas, vermutete, dass die Komposition auch mit der um die Jahrhundertwende gemachten nächtlichen Reise in einer Pferdekutsche von Kerava nach Helsinki zusammenhängen könnte. Sibelius erinnerte sich 1953, dass der Sonnenaufgang während jener Fahrt großartig gewesen war und dass der Himmel in allen Farben leuchtete.
Das Wichtigste mag vielleicht dennoch das sein, was der Komponist Rosa Newmarchill erzählte. Danach behandelt die Musik „innere Erlebnisse eines einfachen Menschen, wenn er alleine durch die Dämmerung eines Waldes reitet, zuweilen froh allein mit der Natur zu sein, zuweilen ängstlich vor der Stille oder vor den die Stille störenden fremden Lauten, aber nicht erfüllt von unbegründeten bösen Ahnungen, sondern dankbar und glücklich über das Morgengrauen“.
Das Werk wurde im November 1908 fertig. Es war das erste Orchesterwerk nach der Kehlkopfoperation. Sibelius vertraute die Erstaufführung dem Dirigenten Alexander Siloti in St. Petersburg an. Leider strich Siloti einige Stellen der Partitur und folgte den Aufführungsanweisungen des Komponisten nicht. Die Rezensionen waren niederschmetternd. Zum Beispiel fragte die Zeitung „Novoje Vremja“ gelangweilt: „Wer reitet eigentlich und warum?“ Nach der Zeitung „Slovo“ waren „Eckigkeit, Grobheit und Plumpheit in harmonischen Wendungen, Eintönigkeit der Rhythmen und trübe Klangfarbe der Orchestrierung“ charakteristisch für Sibelius. Das Werk hatte – so die Zeitung – „sehr wenig Erfolg“.
Die Kehlkopfoperation mag ein Grund für Sibelius’ Stiländerung gewesen sein. Die glanzvolle Orchestrierung von Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) gehörte in die Vergangenheit, der Ausdruck war jetzt karger, auf das Wesentliche konzentriert. Nach der gewalttätigen Einleitung führen die Violen und Violoncelli den Reitrhythmus auf.
Auszug aus der Partitur Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu), Robert Lienau Musikverlag
Das Seitenthema wird durch die Holzblasinstrumente vorgestellt. Erik Tawaststjerna hat eine Anmerkung gemacht, dass die Behandlung des Orchesters einen Zusammenhang mit dem adagio-Teil der Symphonie Nr. 2 hat.
Die Musik beginnt wilder zu werden, die Nacht zeigt ihre gespenstigen Seiten. Der hartnäckige Trochäusrhythmus bringt sogar minimalistische Töne in das Werk. In der Mitte des Werkes melden die Streichinstrumente die Erlösung des Reiters: Die Kräfte der Dunkelheit weichen langsam und die Sonne geht auf.
Auszug aus der Partitur Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu), Robert Lienau Musikverlag
Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu) hat bei den Musikwissenschaftlern keine ungeteilte Anerkennung gefunden. Erkki Salmenhaara hat ganz offen festgestellt, dass das Werk nicht das Niveau von Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) habe und dass Sibelius’ introvertiertes Nachdenken in der Morgendämmerung auch nicht „richtig seine endgültige Form“ gefunden habe.
Der Schlüssel steckt gerade in dem Wort ‚introvertiert’. Mit diesem Werk und dem Streichquartett Voces intimae hatte Sibelius die Expedition in sein Innerstes angefangen. Der persönlichere Ausdruck hat dann in den nächsten Jahren erstaunliche Meisterwerke hervorgebracht: die Symphonie Nr. 4, Der Barde (Bardi), Luonnotar und Die Okeaniden (Aallottaret).