Ist nicht ganz einfach, Sibelius’ stilistische Entwicklung zu umreißen. Eine „mittlere Phase“ oder „Spätphase“ kann man bei Sibelius nicht erkennen, weil er während der beiden Phasen sehr verschiedenartige Werke komponierte, von leichten Klavierminiaturen und Bühnenmusik bis zur absoluten Musik, wie Symphonien.
Frühe Produktion
Wassertropfen (Vattendroppar, Vesipisaroita) wird oft als Sibelius’ erste Komposition erwähnt. Man hat behauptet, er habe die kleine Komposition für Violine und Cello schon als 10-jähriger Junge komponiert, aber vermutlich ist das Werk ca. fünf Jahre später entstanden, als eine kleine Übung für den Komponisten und für den Bruder Christian, der gerade angefangen hatte, Cello zu spielen.
Erste Angaben zu einer eigenen Komposition finden sich in Sibelius’ Briefen vom August 1883. Das erhaltene Trio ist die erste Komposition, die mit Sicherheit datiert werden kann.
Die frühen Kammermusikwerke, zumindest bis 1885, komponierte Sibelius als Bedarfsmusik für die musizierenden Familienmitglieder. In diesen Werken sind Einflüsse der Komponisten erkennbar, deren Werke die Familie Sibelius übte. Zu diesen gehörten Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann und Mendelssohn.
Nachdem Sibelius im Herbst 1885 am Musikinstitut Helsinki zu studieren angefangen hatte, erschienen in seinen Kompositionen immer mehr Einflüsse der zeitgenössischen Komponisten – Tschaikowski und Grieg – sowie auch immer mehr Sicherheit und Eigenart.
Während dieser Phase erlitten seine Träume, Geigenvirtuose zu werden, Rückschläge und die Versuche ein Streichquartett zu komponieren, bekamen aufkeimende orchestrale Züge. Die Studien in Helsinki endeten 1889 mit einem Quartett in a-Moll und einer Suite in A-Dur, die endgültig seinen Ruf als die große Hoffnung der finnischen Musik besiegelten.
Die Produktion der 1890er Jahre: Die nationalromantische Periode
Während des Studienjahres in Berlin, 1889–1890, konzentrierte sich Sibelius vorwiegend auf technische Übungen, aber das Klavierquintett in g-Moll gab schon Hinweise auf neuartige dämonische Musik und auf Bestrebung zu umfassenderen Werken. Zu den Errungenschaften des Jahres 1890 gehörte auch die Veröffentlichung der ersten Fassung des Werkes Romanze in h-Moll (Romanssi). Sibelius nahm letzten Endes die erfreuliche, romantische Melodie in einer erneuerten Fassung unter Opusnummer 2a in seine Sammlung der in der Jugend komponierten Werke auf.
Während des Studienjahres 1890–1891 in Wien begann Sibelius mit Hilfe der Theorien von Karl Goldmark und Robert Fuchs seine Karriere als Orchesterkomponist und das Orchester wurde auch sein wichtigstes Instrument. Overtüre E-Dur und Scène de ballet (Balettikohtaus) blieben von den Entwürfen zu einer ersten Symphonie übrig. Scène de ballet (Balettikohtaus) ist auch schon sehr starke und eigentümliche Musik – als Inspiration hatte Sibelius „die traurige Erinnerung“ eines Besuches in einem Wiener Bordell gehabt.
Der wichtigste stilistische Durchbruch in Wien geschah jedoch beim Lesen des Kalevala und beim Suchen nach dem „finnischen“ Rhythmus der Musik.
”Ich finde das Kalevala ganz modern. Ich empfinde das Ganze als Musik, Thema und Variationen“, schrieb er im Dezember 1890. Zur selben Zeit fing Sibelius an, sich von seinen früheren Vorlagen zu trennen. „Ich zeigte gestern Fuchs einen Teil meiner Kompositionen. Er ist hier der beste Theoretiker. Er hielt sie für barbarisch und roh… Findest du nicht auch, dass die Deutschen schon ihre Rolle gespielt haben. Sie haben ja niemanden wie Zola, Ibsen, Tschaikowsky usw. vorzuweisen!“ schrieb Sibelius im Januar an seine Verlobte Aino Järnefelt.
Ein paar Tage danach komponierte er das Lied Der Traum (Drömmen, Uni), in dem der Einfluss der finnischen Volksmusik und des Rhythmus des Kalevala deutlich zu hören sind. „Es ist neu und es ist auch finnisch. Ich glaube fest an die finnische Musik, obwohl die „Sachkundigen“ schmunzeln. Die klangvolle, sonderlich schwermütige Eintönigkeit, die es in allen finnischen Melodien gibt, ist sehr charakteristisch, obwohl sie eigentlich ein Fehler ist.“
Im April 1891 fand Sibelius, dass seine Studien fortgeschritten wären: „Ich beherrsche jetzt das Orchester und mache mit ihm, was ich will und was ich für richtig halte“. Er fing an, Kullervo zu komponieren und hatte dabei das Kalevala im Kopf. „Alles, was ich jetzt mache, kommt direkt aus dem Kalevala“, schrieb er.
Als Sibelius Kullervo in Wien, Loviisa und Helsinki komponierte, vertiefte er sich immer tiefer in die Mysterien der finnischen Volksmusik. Gleichzeitig wandte er alles an, was er gelernt hatte: Die Ratschläge von Goldmark und Fuchs über das Schmieden von Themen und über Orchestrierung, sowie seine Einflüsse von Beethoven, Bruckner und Wagner. Kullervo ist dennoch ein vollkommen eigenständiges, wildes Großwerk, das als eine megalomanische Bestrebung des jungen Komponisten nur mit dem Werk Das klagende Lied von Gustav Mahler und aus späteren Zeiten mit der Symphonie Turangalila von Olivier Messiaen und mit der Kraft von Magnus Lindberg verglichen werden kann.
Die 1890er Jahre gehörten zu der nationalromantischen Periode von Sibelius. Das Kalevala gab ihm Inspiration u. a. für die Bühnenmusik Karelia und für die daraus überarbeitete Karelia–Suite, für die Lemminkäinen–Suite und für Chorkompositionen, wie Kahnfahrt (Venematka). Gleichzeitig war ein starker Zug nach absoluterer Musik schon deutlich: Eine Sage (En saga, Satu) war für den Komponisten „eine Äußerung des Gemützustands“.
Mitte der 1890er Jahre durchlief Sibelius eine Wagner-Krise und studierte in dieser Zeit die Musik von Liszt. Ende der 1890er Jahre nahm er immer stärker Einflüsse von Tschaikowski auf und auch von Berlioz – aber bewahrte dabei sein eigenständiges Komponistenprofil vollkommen.
„Der Würfel ist gefallen“, könnte man meinen, als Sibelius 1899 seine neue vierteilige Komposition „eine Symphonie in vier Sätzen“ nannte, die später in Symphonie Nr. 1 umbenannt wurde. Er trat in die Gesellschaft der teilweise schon als altmodisch beurteilten Komponisten von Symphonien ein. Er war aber bereit, das symphonische Formdenken zu erneuern und auch das Komponieren der symphonischen Dichtungen in programmatischerem Stil fortzusetzen.
1900-1914: Auf dem Weg zur Spitze der modernen Musik
Sibelius internationaler Durchbruch fand während der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts statt, als die Bühnenmusikserie König Kristian II (Kung Kristian II, Kuningas Kristian II), die symphonischen Gedichte Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) und Lemminkäinen zieht heimwärts (Lemminkäinen palaa kotitienoille), Finlandia, eine überarbeitete Fassung von Eine Sage (En saga, Satu) und die Symphonie Nr. 1 als Partituren international vertrieben werden konnten. Die nationalromantische Tendenz von Sibelius setzte sich 1902 zum Beispiel mit der Tondichtung Der Ursprung des Feuers (Tulen synty) fort, aber die im selben Jahr entstandene Symphonie Nr. 2 war ein Schritt in eine klassischere und hellere Richtung und unterscheidet sich damit von der schweren spätromantischen Tonsprache der Symphonie Nr. 1.
Während des starken stilistischen Gärungsprozesses kamen in Sibelius’ Tonsprache überraschend dissonierende und experimentelle Töne zum Vorschein, besonders in den 1903 komponierten, meisterhaften Liedern Herbstabend (Höstkväll, Syysilta) und Auf dem Balkon am Meer (På verandan vid havet, Merenrantakuistilla). Die Überarbeitung der Tondichtung Eine Sage (En saga, Satu) und die Komposition eines Violinkonzerts sowie seine Überarbeitung wiesen auf die Tendenz der immer intensiveren Konzentration hin: In beiden Werken musste die umfassende und vielschichtige erste Fassung der neuen konzentrierteren Fassung Platz machen.
DDas Werkepaar Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) (1906) und die Symphonie Nr. 3 (1907) zeigt, dass Sibelius gleichzeitig zwei Richtungen gefolgt ist: Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) ist romantischer orchestriert und reicher an Effekten, hingegen ist die Symphonie Nr. 3 wesentlich klassischer und beherrschter, aber der Anfang des dritten Satzes ist in seiner scheinbaren „Chaosartigkeit“ das Modernste, was Sibelius bis dahin komponiert hatte.
Die Betonung der Konzentrierung, die mit der Symphonie Nr. 3 angefangen hatte, hielt an: Der nach der Halsoperation „trocken“ gewordene Sibelius hörte auf seine inneren Stimmen und komponierte 1909 das Streichquartett Voces intimae. Die Entwicklungstendenz wurde mit der Symphonie Nr. 4 fortgesetzt, die im Jahr 1911 in ihrer Konzentration, Modernität und Musikalität der Kammermusik unübertrefflich war. Die symphonische Dichtung Der Barde (Bardi) und die Tondichtung Luonnotar setzten die Serie der verinnerlichten Meisterwerke fort.
Neben diesen Werken komponierte Sibelius 1911 zum Beispiel das Werk Valse romantique, um den Erfolg von Valse triste zu wiederholen und bearbeitete seine Jugendwerke, wie Romanze in h-Moll (Romanssi h-molli) und die Musik für eine Tagung der finnischen Druckpresse. Aus den Teilen dieser Musik, die Sibelius für brauchbar hielt, bildete er die Orchestersuite Scènes historiques I (Historiallisia kuvia I). Er komponierte auch weiterhin Bühnenmusik und Kleinstücke.
Noch ein neues Charakteristikum kam im Jahr 1914 in Sibelius’ Produktion intensiver als je zum Vorschein. Die symphonische Dichtung Die Okeaniden (Aallottaret) weist deutliche Einflüsse von Debussy auf, obwohl das Werk karger ist, als zum Beispiel Debussys La Mer. Sibelius hatte somit gegen 1910 von den Strömungen der Zeit den Expressionismus (Symphonie Nr. 4), die Rückkehr zur klassischeren Ästhetik (Symphonie Nr. 3) und den Impressionismus (Die Okeaniden, Aallottaret) verwendet, ohne eigentlich mit diesen Tendenzen verbunden gewesen zu sein.
1914-1919: Die Kleinstücke und die symphonische Virtuosität
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges bedeutete für Sibelius ein mühsames Doppelleben. Als die Verbindungen zum Ausland abbrachen, musste er unzählige Klavierstücke, die auch für Amateure spielbar sein sollten und andere Kleinstücke komponieren, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Zur selben Zeit sammelte er seine Kräfte, um die Symphonie Nr. 5 zu komponieren, die dann ja die symphonische Form erneuert hat.
Der Kampf mit der Symphonie Nr. 5 war nicht beendet, als sie am 8. Dezember 1915 auf der Feier zu Sibelius‘ 50. Geburtstag uraufgeführt wurde und auch noch nicht ein Jahr später mit der neuen Fassung. Erst als die zwei ersten Sätze genial aneinandergefügt worden waren und der langsame Satz bedeutend vielfältiger als der ursprüngliche geworden war, gab sich Sibelius 1919 endlich zufrieden.
Der Komponist von konservativeren Kleinstücken schien sich nach der modernen Symphonie Nr. 4 auch in seiner symphonischen Tonsprache wieder den Traditionen anzunähern. Aber wenn die Harmonien traditioneller waren, war sein Formendenken fortschrittlicher und virtuoser denn je zuvor.
Die Produktion der 1920er Jahre: Die symphonische Einheit
Anfang der 1920er Jahre komponierte Sibelius die Symphonie Nr. 6 (1923) und die Symphonie Nr. 7 (1924), die er gleichzeitig mit der Symphonie Nr. 5 skizziert hatte. Sie bedeuteten einen Höhepunkt der symphonischen Konzentration, deren Kulmination die Symphonie Nr. 7 mit nur einem Satz darstellt. Diese ist wirklich eine kompakte Symphonie in einem Satz, nicht ein einzelner Satz einer Symphonie. Es handelt sich um eine einmalige Komposition, in der die Form aus dem Inhalt entstand.
Zur selben Zeit komponierte er weniger Kleinstücke als zuvor und entspannte sich beim Komponieren kleiner Suiten, wie Suite caractéristique und Suite champêtre.
Mitte der 1920er Jahre war Sibelius auf der Höhe seines Schaffens. Die Bühnenmusik gipfelte 1925 im Komponieren des Werkes Der Sturm (Myrsky) zum Text von Shakespeare. Die symphonischen Dichtungen erreichten 1926 ihren Höhepunkt in Tapiola, wo mit einem Thema geschickt umgegangen wird.
Es wird gesagt, Sibelius sei auf der Höhe seines Schaffens verstummt, aber die im Jahr 1927 bearbeiteten Orchestersuiten aus Der Sturm (Myrsky) entsprechen teilweise nicht den Erwartungen in seine Bühnenmusik. Nach diesem Jahr nahm seine Schaffenskraft schnell ab.
Sibelius vollendete noch einige hervorragende, asketische kleine Werke, aber die Entwürfe der achten Symphonie verbrannte er in den 1940er Jahren, nachdem er jahrelang daran gearbeitet hatte.
Die späten Werke
Die Stille in Ainola war gar nicht so still, wie man im Allgemeinen vermutet hatte. 1930–1957 machte er mehrere neue Arrangements. Ökonomie und Asketik schienen ihm dabei wichtige Werte zu sein. Noch im Sommer 1957 diktiert er neue Fassungen zu dem Lied Komm herbei, Tod! (Kom nu hit, död!, Saavuthan yö!) und zu Kullervos Wehruf/Klage (Kullervon valitus). Der Aufruf Komm herbei, Tod! wurde am 20. September 1957 erhört.