Sibelius fuhr erst am 19. Oktober nach Wien, ohne vorher einen Lehrer gefunden zu haben. Der Traum, bei Brahms oder Bruckner studieren zu dürfen, erwies sich als nicht realisierbar. Keiner von beiden hatte ihn empfangen. So wurde er Privatstudent von Robert Fuchs, der am Wiener Konservatorium unterrichtete. Die Immatrikulationszeit war schon abgelaufen und so konnte Sibelius nicht als ordentlicher Student am Konservatorium studieren und auch seine Werke wurden in Studentenkonzerten nicht aufgeführt.
Als Verstärkung des Studentenorchesters durfte der Finne dennoch spielen. Auf diese Weise lernte Sibelius die jungen, in Wien studierenden Musiker kennen, wie den Violinisten Carl Frühling und den rumänischen Cellisten Dmitri Dinicu.
Sibelius versuchte auch, den zu seiner Zeit sehr beliebten Komponisten Karl Goldmark, der mit seiner Oper Die Königin von Saba berühmt geworden war, als Lehrer zu gewinnen. Goldmark empfing ihn Anfang November. Er war einverstanden Sibelius‘ Lehrer zu werden, aber nur unter der Bedingung, dass dieser ihm seine Werke zur Bewertung brächte, sobald sie fertig würden. Fuchs konnte Sibelius bei der Instrumentation helfen und Goldmark verstand es zu inspirieren.
Sibelius war mit seinen Lehrern und mit der Stadt zufrieden. Er hörte Wagners Tristan und Isolde und lobte das Niveau der Aufführung im Vergleich mit den Opernaufführungen in Berlin. Ein weiteres großes Erlebnis war die Uraufführung der überarbeiteten 3. Symphonie von Bruckner. Sibelius hielt Bruckner jetzt für „den größten lebenden Komponisten“ und kaufte gleichzeitig nach alter Gewohnheit Partituren von Beethoven und Wagner. Er suchte auch wegen seiner Studien die Gesellschaft von Musikern und machte sich zum Beispiel bei einem Oboisten namens Heber gründlich mit den Eigenschaften des Englischhorns vertraut.
Neben seinen Studien feierte Sibelius reichlich mit seinen neuen Freunden und gab sich auch dem Glückspiel hin, dessen er jedoch innerhalb eines halben Jahres überdrüssig wurde. „Ganz Wien besteht aus Lachen und Walzern“, schrieb der entzückte Sibelius an seine Familienangehörigen.
Jean Sibelius in Wien
Sibelius lebte wieder über seine Mittel. Er wurde der Sängerin Pauline Lucca vorgestellt, die mit einem steinreichen Baron verheiratet war und schon bald verbrachte der junge Komponist seine Abende auf Luccas Empfängen. Um seine finanzielle Lage zu verbessern, bemühte er sich um eine Stellung als Violinist bei den Wiener Philharmonikern. Die Jury befand den an Lampenfieber leidenden Sibelius jedoch als zu nervös für einen Orchestermusiker.
Das Jahr in Wien war ausschlaggebend für Sibelius‘ Entwicklung. Goldmark hielt ihn an, seine Themen noch sorgfältiger und überlegter auszuarbeiten. Er ermutigte Sibelius, sich zuerst einmal mehr auf die Klassiker zu stützen und weniger auf Berlioz und Wagner. In dieser Zeit fing Sibelius an, die finnische Volksmusik und die Takte des Kalevala (Kalevala) zu studieren, um mehr Eigenart in seine Werke zu bekommen. Zuallererst wandte er den neuen Stil in dem Lied Der Traum (Drömmen) an, das er zu einem Gedicht von Runeberg komponiert hatte.
Im Februar fing er an, seine erste Symphonie zu skizzieren. Erhalten blieben nur Die Ouvertüre in E-Dur (Alkusoitto in E-Dur) und Die Balletszene (Balettikohtaus), die er als zweiten Teil geplant hatte. „Die Ouvertüre habe ich im Kopf“, schrieb er am 10. Februar an Aino. „Das zweite Thema bist du: es ist wehmütig, weiblich, aber leidenschaftlich.“
In der Die Balletszene (Balettikohtaus) war die Leidenschaft anders, nämlich schwermütiger. Sibelius erzählte Paul später, dass er die Inspiration in einer Nacht in einem Wiener „Hurenhaus“ bekommen hätte, „wo die Huren getanzt haben“.
Im April 1891 wurden Die Ouvertüre (Alkusoitto) und Die Balletszene (Balettikohtaus) in Helsinki von Robert Kajanus‘ Orchester in einem Populärkonzert aufgeführt. Kajanus erzählte dem Komponisten, dass niemand applaudiert hätte, obwohl sie seiner Meinung nach ausgezeichnet geklungen hätten. Sibelius‘ Selbstvertrauen nahm zu: „Ich beherrsche jetzt das Orchester und mache mit ihm, was ich will und was ich für richtig halte“, schrieb er selbstbewusst an Adolf Paul.
Die finnischen Kritiker waren über „die Modernität” der Kompositionen verwundert. „Freiheraus gesagt, sind wir noch nicht dahintergekommen, was der Künstler eigentlich mitteilen möchte“, kommentierte ein Kritiker von „Päivälehti“ Die Ouvertüre (Alkusoitto) am 24. April. Oskar Merikanto von „Päivälehti“ konnte Die Balletszene (Balettikohtaus) überhaupt nicht verstehen.
Die Ouvertüre (Alkusoitto) und Die Balletszene (Balettikohtaus) blieben isolierte Einzelwerke, als Sibelius den Plan zu einer Symphonie aufgab und anfing, ein Orchesterwerk zu der Sage von Kullervo im finnischen Nationalepos Kalevala zu komponieren. Die Arbeit wurde durch eine neue Erkrankung unterbrochen, die eine Behandlung erforderlich machte und die allem Anschein nach auch zu einer Operation in der teuren Privatklinik von Dr. Eder führte. Sibelius schrieb, dass ihm „ein Stein“ entfernt geworden wäre. Danach besserte sich das Befinden des Komponisten und die chronische Kränkelei der Studienjahre war damit vorbei.
Die Angehörigen mussten bei ihren Freunden in Loviisa Spenden sammeln, um Sibelius‘ Krankenhauskosten zu bezahlen. Dies geschah im Juni, als die Studien schon vorbei waren. Sibelius reiste nach Berlin, wo er seine ganze Reisekasse beim Feiern mit seinen alten Studienkameraden verschwendete. Eine neue, von seinen Verwandten unter Aufwendung großer Mühe gesammelte Geldsendung reichte in der Folge bis Finnland. In seiner Heimat angekommen, musste Sibelius gleich weitere Anleihen aufnehmen.