Janne zog, zusammen mit Mutter und Schwester Linda, die an eine Lehranstalt für weiterführende Studien kam, nach Helsinki um. Sein jüngerer Bruder Christian blieb noch für ein paar Jahre in Obhut seiner Großmutter und seiner Tanten in Hämeenlinna und besuchte da die Schule.
Der Umzug von Hämeenlinna, mit nur ein paar Tausend Einwohnern, nach Helsinki, mit seinen damals ca. 60 000 Einwohnern, war für Janne ein überwältigendes Erlebnis. Sein Weltbild war dabei sich zu ändern: Der Roman Röda rummet (Das rote Zimmer) von August Strindberg hatte schon einen Teil seiner jugendlichen Unschuld weggewischt und Janne hatte seine Tanten durch sein freidenkerisches Gerede bestürzt.
Bald wurde es klar, dass Janne seine Zeit nicht an der Universität verbrachte. Das Helsingfors Musikförenings Musikinstitut bzw. das Helsingin musiikkiopisto (Musikinstitut von Helsinki), das Martin Wegelius 1882 gegründet hatte, nahm Jannes Interesse total in Anspruch.
Mitrofan Wasiljeff unterrichtete Geigenspiel und hielt seinen Studenten „für ein Musikgenie“. Janne durfte gleich im ersten Herbst die Concerti von Viotti und Rode einstudieren. Martin Wegelius selbst fing an, ihn Musiktheorie, Kontrapunkt und Harmonielehre zu unterrichten. Der Rektor begeisterte sich schnell für seinen Studenten, der schon eine ganze Menge Kammermusik komponiert hatte. Allmählich entwickelten sich die Theoriestunden zu Kompositionsstunden und Wegelius sagte, dass er von Sibelius genauso viel lernte wie dieser von ihm.
Martin Wegelius 1846–1906, Sibelius‘ Lehrer
Im Frühlingssemester fing Sibelius an, die Visitenkarten seines Seekapitänonkels zu benutzen. „Jean ist jetzt mein Name als Musiker“, schrieb Janne seinem Onkel Pehr am 31. März. Janne war Violinist im akademischen Orchester von Richard Faltin und das war der einzige Berührungspunkt mit der Universität.
Sibelius’ Kunstfertigkeit mit der Geige wurde wahrgenommen: Am 27. Mai 1886 spielte er David’s Concerto in e-Moll in einer der Frühlingsvorführungen des Instituts, am Klavier begleitet von Antonie, der Tochter von Dr. Paulus Leontjeff. Er wurde in Nya Pressen vom Kritiker Karl Flodin wegen seiner „weit entwickelten Technik“ gelobt. In seinem Frühlingszeugnis hatte er eine Reihe von Zehnen (sehr gut), aber im Fach Klavierspiel musste er sich mit der Note sieben (befriedigend) abfinden. Während des Frühlingsausflugs des Musikinstituts hielt Wegelius eine Rede an Sibelius und sagte, das er hoffte, dass Sibelius fähig sein würde, alles das zu erreichen, wovon er, Wegelius, immer nur geträumt hätte.
Der Star des Musikinstituts schlüpfte in seinem zweiten Studienjahr in eine neue Rolle: Er fing an, Adolf Paul gegenüber, der das erste Jahr studierte und der einer seiner besten Freunde wurde, den großen Künstler zu spielen. Zu Jannes Leben gehörten jetzt Zigarren, Alkohol und Pläne für große Kompositionen.
Im Herbstsemester 1886 trat Sibelius vier Mal als Solist auf und im Frühlingssemester 1887 fleißig als Kammermusiker, aber seine Träume, ein Geigenvirtuose zu werden, erlitten einen Rückschlag. Das Andante und das Finale von Mendelssohns Concerto misslangen im Konzert und Richard Faltin warf ihm in seiner Kritik vor, dass der Klang dünn und unrein gewesen wäre.
Weiter kam Sibelius als Geigenvirtuose nicht. Er spielte jedoch weiterhin fleißig in verschiedenen Orchestern und Kammermusikzusammensetzungen. Sibelius bekam einen neuen Lehrer im Geigenspiel, Hermann Csillag, der ihn in das Streichquartett des Instituts als zweiten Violinisten aufnahm. Zu Hause spielte Sibelius mit seinem Bruder Christian, der auch nach Helsinki umgezogen war, mit Richard Faltin jun. und mit Ernst Lindelöf in einem Quartett, das während der Studienjahre Zeit fand, den größten Teil der Streichquartette von Haydn sowie der Quartette von Mozart und Beethoven einzuüben.
Im Frühling 1888 komponierten Wegelius und Sibelius zusammen die Musik für Gunnar Wennerbergs Näkki (Der Wassergeist). Richard Faltin sen. schrieb in seiner Kritik, dass Sibelius als Komponist noch interessanter wäre, denn als Violinist. Im Mai 1888 wurde das Streichquartett, bzw. Thema und Variationen in cis-Moll gut aufgenommen. In Nya Pressen lobte der Kritiker Karl Flodin „die ausgezeichneten theoretischen Fähigkeiten und die bemerkenswerte Vorstellungskraft“.
Im Sommer komponierte Sibelius in Loviisa ein Kammermusikwerk, Loviisa-trio in C-Dur für Klavier, Violin und Cello, das zu den besten Werken seiner frühen Schaffensperiode gehört. In dieser Zeit war auch den Musikkreisen in Helsinki klar geworden, dass Sibelius in erster Linie als Komponist seinen Weg machen würde und nicht als Violinist.
Im Herbst 1888 freute man sich am Musikinstitut, als es Wegelius gelang, den zukünftigen Meisterpianisten, Komponisten und Kapellmeister Ferruccio Busoni zu überreden, als Klavierlehrer ans Institut zu kommen. Der junge Virtuose lernte Sibelius und den zweiten Star des Instituts, Armas Järnefelt sowie Adolf Paul kennen. Nach Busonis Hund Lesko nannte der Kameradenkreis sich „Leskoviten“ und verbrachte seine Zeit in Busonis Wohnung und in den Kaffeehäusern von Helsinki.
Ferruccio Busoni (1866-1924)
Busoni ermutigte Sibelius in seiner Kompositionsarbeit. Im Herbst veröffentlichte Sibelius zum ersten Mal eine Komposition. Es handelte sich um die Serenade zum Text von Runeberg. Sie wurde im Heft Det sjungande Finland II (Das singende Finnland II) veröffentlicht.
Im Herbst 1888 geschah noch mehr Bedeutungsvolles. Armas Järnefelt, den Sibelius am Musikinstitut kennen gelernt hatte, nahm Sibelius zu seiner Familie mit, wo Janne zum ersten Mal seiner zukünftigen Frau begegnete.
Die 17-jährige Aino Järnefelt war mit ihrer Mutter Elisabeth Järnefelt und ihrer Schwester nach Helsinki in das Resvoy-Haus, (Mikonkatu 17) umgezogen. Ainos Mutter Elisabeth entstammte einer baltischen Adelsfamilie – sie war eine geborene Clodt von Jürgensburg. Sie war in St. Petersburg aufgewachsen und ihre Muttersprache war Russisch. Ainos Vater wiederum war Provinzverwalter in Kuopio, später in gleicher Position in Vaasa. Aleksander und Elisabeth waren beide leidenschaftliche Fennomanen (Anhänger der finnischen Kultur und Sprache). Elisabeth hatte die finnische Sprache erlernt, die sie mit einem charmanten Akzent sprach.
Armas Järnefelt erinnerte sich später, dass Aino im Zimmer blieb, um den Vortrag der Jungen zuzuhören, dass der verblüffte Sibelius einen Fehler machte und aufstand, um sich bei Aino zu entschuldigen. Ihre Blicke trafen sich und die jungen Leute verliebten sich in diesem Augenblick. Nach Ainos Erinnerung hatte sie sogar zu der Musik getanzt, bis „der intensive, leidenschaftliche Blick“ von Sibelius sie einfing.
1889, während seines letzten Frühlings am Musikinstitut, verbrachte Sibelius viel Zeit bei der Familie Järnefelt. Er lernte die Brüder von Armas kennen: Eero, der Maler werden wollte und Kunst studierte und Arvid, der zusammen mit dem Schriftsteller Juhani Aho und dem Chefredakteur Eero Erkko mit der Planung einer neuen finnischsprachigen Zeitung beschäftigt war. So war Sibelius in den Zirkel der Tageszeitung „Päivälehti“, dem Vorgänger von „Helsingin Sanomat“ gezogen worden, noch ehe die erste Nummer der Zeitung erschienen war. Diese erschien dann im November 1889. Die zukünftigen Starredakteure der Tageszeitung „Päivälehti“ beeinflussten die Sinne des jungen Sibelius in der Weise, dass er die Bedeutung der finnischen Sprache verstand und den Kulturbegriff in einer fortschrittlichen Weise sehen lernte. „Ich war beinahe ein ‚Svekomane’ (Anhänger der schwedischen Sprache und Kultur in Finnland), bis die Mitglieder des Zirkels der Tageszeitung ‚Päivälehti’ in mir neue Gedanken anregten“, erinnerte sich Sibelius später.
Sibelius’ Studien in Helsinki krönen zwei Kammermusikarbeiten, eine Suite für Geige, Viola und Cello und ein Streichquartett in a-Moll. Die Uraufführung der Suite war am 13. April 1889. Die Musikkritiker hatten „höchste Erwartungen” in sie gesetzt. Die Kritik über die Aufführung des Quartetts in a-Moll war ein noch einstimmigerer Erfolg. „Er ist mit einem Schlag in die erste Reihe derer aufgerückt, in deren Hände man die Zukunft der finnischen Musik gelegt hat“, schrieb Karl Flodin in Nya Pressen. Die Aufführung war für die Finnen ein so großes Erlebnis, dass zum Beispiel der gefeierte Kapellmeister und Komponist Robert Kajanus behauptete, mit dem Komponieren auf der Stelle aufzuhören. Kajanus komponierte weiter. Seinen Weltruf aber schuf er als Vorkämpfer für Sibelius‘ Musik und die frühen Schallplattenaufnahmen seiner Musik.
Sibelius war jetzt der größte Hoffnungsträger in der finnischen Musik. Der junge Komponist bekam ein Stipedium in der Höhe von 2000 Mark, um im Herbst in Berlin studieren zu können. Das waren in heutigem Geld ca. 8000 Euro.
Gleichzeitig war im Privatleben eine vorübergehende Änderung eingetreten. Die aufkeimende Romanze mit Aino Järnefelt kam nicht vorwärts, denn Sibelius verkehrte im Frühling und im Frühsommer mit Betsy Lerche, die er am Musikinstitut kennen gelernt hatte und für die er einen hinreißenden Walzer komponierte. Obwohl die Beziehung zu Betsy schnell zu Ende ging, fanden Aino und Janne aber keine Zeit, sich zu versöhnen und es gibt auch keinen Briefwechsel zwischen ihnen aus der Zeit, in der Sibelius in Berlin studierte.