Nach der Halsoperation fingen „die glücklichsten Jahre“ im Leben von Aino Sibelius an, wie sie später einmal dem Privatsekretär ihres Mannes, Santeri Levas, erzählte. Der „trocken“ gewordene Sibelius hielt sich mehr als je zu Hause auf und komponierte introvertierte Meisterwerke. Todesangst, die Schuldenlast und Krankheiten in der Familie bereiteten ihm Stress, aber sonst „blühte“ das Familienleben.
„Mit dem Vater scherzte sie [Aino] manchmal“ erinnerte sich die Tochter Katarina Ilves später. „Sie trieben miteinander allerlei Spaß. So konnte es zum Beispiel sein, dass sie auf einmal anfingen, ohne Musik Walzer zu tanzen, z. B. im heutigen Esszimmer. Das Familienglück wurde noch größer, als die fünfte Tochter Margareta geboren wurde.
Sibelius hatte sich überraschenderweise bereit erklärt, zwei begabten Komponisten, nämlich Toivo Kuula und Leevi Madetoja, Musikunterricht zu erteilen. Unterricht fand nur selten statt und er konnte sich Ende des Jahres 1908 intensiv auf das Komponieren des Werkes Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu) konzentrieren. Er schickte das Werk Ende November an Kapellmeister Aleksander Siloti in St. Petersburg. Siloti dirigierte Anfang des Jahres 1909 die Uraufführung, aber die Rezensionen waren niederschmetternd. Der Musikkritiker der Zeitung „Novoje Vremja“ fragte, um zu zeigen, dass er durch das Werk gelangweilt war, „wer reitet eigentlich und warum“.
Sibelius komponierte weiter und hörte dabei auf seine inneren Stimmen. Er arbeitete an einem neuen Streichquartett, dem ersten und einzigen der Art seit seinen Studienjahren. Die Arbeit wurde im Februar in London fortgesetzt. Rosa Newmarch freute sich über Sibelius‘ neues, nüchternes Wesen.
In London dirigierte Sibelius in überragender Art und Weise Eine Sage (Satu, En Saga) und Finlandia. „Vor allem Finlandia wurde auf unvergleichliche Weise dirigiert“, bewunderte man im „Standard“ die Aufführung. Sibelius war auch in Cheltenham, wo Valse triste und Frühlingslied (Kevätlaulu) aufgeführt wurden. Auch diese Vorstellungen kamen gut an.
In London traf Sibelius auch Claude Debussy, der ihm Komplimente machte. Auf dieser Reise erlitt er nur einen einzigen Rückschlag und zwar im Music Club. Dort fand eine geschlossene Veranstaltung statt und die kurzen Gelegenheitswerke von Sibelius ärgerten zum Beispiel den Komponisten Arnold Bax durch ihre Bescheidenheit.
Sibelius fing während seines Besuches in London an, ein Tagebuch zu führen. Zuerst hielt er alle seine Wechsel fest, deren Wert insgesamt ca. 55 000 Mark ausmachte, das wären gegenwärtig beinahe 170 000 Euro. Langfristige Anleihen zählte er nicht mit. Sie hätten den Saldo um 100 000 Gegenwartseuro erhöht.
Bei Breitkopf & Härtel fing man jetzt an zu planen, wie man Sibelius für den Verlag zurückgewinnen könnten. Oskar von Hase reiste nach London, um mit dem Komponisten zu verhandeln. Man versprach Sibelius regelmäßige Zusammenarbeit ohne stressige Terminvorgaben. Sibelius war des Vertrags mit Lienau auch schon überdrüssig geworden, der eine Auszahlung des an und für sich guten jährlichen Honorars erst vorsah, wenn der Komponist vier größere Werke im jeweiligen Jahr abgeliefert hatte. So schloss der Komponist einen neuen Vertrag mit von Hase ab.
Von London setzte Sibelius seine Reise nach Paris fort, aber es gelang ihm auch dieses Mal nicht, in der französischen Hauptstadt gute Verbindungen zu Musiker- und Musikkreisen zu knüpfen. Er reiste nach Berlin weiter, wo der Arzt feststellte, dass Sibelius‘ Hals geheilt war. Der erleichterte Sibelius gab Lienau das Quartett Voces intimae ab. „Es wurde wunderbar. So ein Werk, das das Lächeln sogar noch auf dem Sterbebett auf die Lippen bringt. Das ist alles, was ich dazu sagen kann“, schrieb Sibelius selbstsicher an Aino.
In Berlin bekam er die Idee für ein neues Werk. Eine 8-Takt-Skizze, in der Bar Riche schnell hin gekritzelt, war der Anfang für das Werk Die Tochter der Natur (Luonnotar). Sibelius ließ die Idee in seinem Unterbewusstsein garen und arbeitete in Berlin an den Liedern des Opus 57 weiter, die ihn endgültig aus dem Vertrag mit Lienau lösten. John Munsterhjelm verewigte ihn in Berlin auf einem Brustbild, das heutzutage in Ainola zu sehen ist.
Siehe Kunstwerke im Saal von Ainola
Sibelius komponierte Ende 1909 mehrere kleine Werke, zum Beispiel zehn Klavierstücke zum Opus 58. Im Herbst begann auf der Reise zum „finnischen Berg“ Koli in der Nähe von Joensuu ein größeres Werk im Kopf von Sibelius zu keimen. Er bewunderte mit seinem Schwager, dem Maler Eero Järnefelt die Landschaft. Der Komponist hielt den Berg Koli für eines der größten Erlebnisse in seinem Leben.
Er wandte sich immer mehr an die Welt seiner inneren Schöpferkraft. „In der Stadt fühlte ich mich nicht mehr zu Hause. Die Einsamkeit meines Lebens fängt an“, schrieb er am 10. Januar in sein Tagebuch. Er setzte die schon lange andauernden Arbeiten an seinem Werk In memoriam fort und vollendete es.
An seiner statt reisten seine Kompositionen in der Welt herum. Im Februar 1910 dirigierte Felix Weingartner die Symphonie Nr. 2 in Wien. Der Kritiker Julius Korngold stellte fest, dass das Werk „eine faszinierende Bekanntschaft“ wäre, in dem der Komponist „seinen nationalen Stoff mit einer genialen Technik“ behandelte.
Voces intimae wurde am 25. April, fast ein Jahr nach seiner Fertigstellung, in einem Konzert des Musikinstituts uraufgeführt. „Die Komposition erregte viel Interesse und sie gehört auch ohne Zweifel zu den großartigsten Schöpfungen ihrer Art. Sie ist keine Komposition für das große Publikum, weil sie so eigentümlich und ungewöhnlich ist“, schrieb „Helsingin Sanomat“.
Sibelius kam im Frühjahr mit dem Komponieren der Symphonie Nr. 4 gut weiter, musste aber wegen seiner finanziellen Situation auch kleinere Stücke komponieren. „Das Große und das Kleine müssen miteinander verbunden werden. Symphonien und Lieder”, schrieb er am 16. Mai in sein Tagebuch. Der persönliche Konkurs war schon des Öfteren abgewendet worden, aber nur, weil Axel Carpelan Mäzene zum Beistand gedrängt hatte.
Im Oktober reiste der Komponist nach Kristiania, dem heutigen Oslo, um seine Werke zu dirigieren. Obwohl das Programm sehr anspruchsvoll war, war Sibelius der Meinung, dass das Konzert dennoch sehr gut ankam: Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu), eine Suite aus Schwanenweiß (Joutsikki), Die Dryade (Dryadi), In memoriam und nach der Pause die todsichere Symphonie Nr. 2. Das kleine, beinahe impressionistische Werk Die Dryade (Dryadi) und das dramatische In memoriam waren Uraufführungen.
Das Publikum war begeistert und Valse triste wurde als Zugabe gespielt. In der Zeitung „Tidens Tegn“ rühmte jemand unter dem Pseudonym A. A. die originale Phantasie des Komponisten und die Virtuosität der Symphonie Nr. 2. „Der letzte Satz ist so prachtvoll und inhaltlich so reich an Gedanken, wie man so etwas äußerst selten in der modernen Musik zu hören bekommt“ freute man sich in dem Blatt. „Verdens Gang“ lobte die Symphonie Nr. 2, hielt aber die Symphonie Nr. 1 für thematisch bedeutungsvoller. Nach Ulrik Mörk von der Zeitung „Örebladet“ wirbelte der Komponist nur die schweren Orchestermassen vage hin und her und konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Die abfälligste Kritik kam von Otto Winter-Hjelm in „Aftonposten“. Seiner Meinung nach „verliert In memoriam vieles wegen übertriebener Effekthascherei und aus demselben Grund erscheint mir die Symphonie Nr. 2 nicht symphonisch“.
Sibelius begab sich von Kristiania nach Berlin. Er vollendete die Umarbeitung des Werkes Der Ursprung des Feuers (Tulen synty), arbeitete energisch an dem dritten Satz der Symphonie Nr. 4 und traf viele Komponisten sowie auch seine Freunde. „Es fühlt sich alles so widerwärtig unbedeutend an. Järvenpää ist doch der beste Platz, auch wenn es dunkel und kalt ist“, schrieb Sibelius.
Anfang November war Sibelius wieder in Järvenpää und komponierte das Finale der Symphonie Nr. 4. Er hatte früher in eine gemeinsame Europa-Tournee mit der Sängerin Aino Ackté eingewilligt, aber die Fertigstellung der Symphonie Nr. 4 erschien ihm jetzt wichtiger. Er sagte zur Bestürzung von Aino Ackté die Tournee ab. Auch das Aino Ackté versprochene Orchesterlied zu dem düsteren Gedicht Der Rabe von Edgar Allan Poe versäumte er fertigzustellen, aber aus den Skizzen des Liedes bekam Sibelius Stoff für die Symphonie Nr. 4.
Das Jahr 1911 begann mit den Abschlussarbeiten zur Symphonie. Sie wurden nur von der Tournee nach Göteborg und Riga unterbrochen. Es war das erste Mal, dass er seine Werke in Schweden dirigierte. Besonders die Konzerte in Göteborg waren ein großer Erfolg und auch die Kritiker waren verzückt: Sogar die Symphonie Nr. 3 kam gut an.
Im April wurde die Symphonie Nr. 4 von Sibelius fertig. Der Komponist verwirrte die Orchestermusiker mit seinem neuen, verinnerlichten Stil und mit der übermäßigen Quarte bzw. dem Tritonus in den Harmonien. Während der Proben fragte er Hugo Aure, ob dieser die Symphonie verstehe. „Nicht so richtig“, antwortete der ehrliche Musiker. „Wie könnte dann das Publikum sie verstehen“, wunderte sich Sibelius.
Im Konzert dirigierte Sibelius streng. Die Zuhörer waren verwirrt, wie erwartet, obwohl auch Bravo-Rufe zu hören waren, während die Kränze getragen wurden. Als Sibelius sich entfernte, sangen die Sänger von Ylioppilaskunnan Laulajat (YL, Männerchor der Universität Helsinki) ihm Das Lied Finnlands (Suomen laulu) von Fredrik Pacius, und Heikki Klemetti sprach Dankesworte. Aino Sibelius ließ sich nicht täuschen. „Entzogene Blicke, Kopfschütteln, verlegenes oder ironisches Lächeln. Viele Gratulanten sah man nicht im Künstlerzimmer“, erinnerte sie sich später.
Sibelius dirigierte die Symphonie Nr. 4 noch ein zweites Mal vor ausverkauftem Haus. Nach dem Konzert applaudierte das Publikum wild. Allem Anschein nach wollte es zeigen, dass es Sibelius verehrte, auch dann, wenn es sein neuestes Werk nicht verstehen konnte.
Die Kritiker waren verdutzt. Fredrik Wasenius versuchte seinen Lesern das Werk unter dem Pseudonym Bis verständlich zu machen, indem er erzählte, dass die Musik Sibelius‘ Reise auf den Berg Koli widerspiegelte. Diese Behauptung wies Sibelius empört zurück. Evert Katila von „Uusi Suometar“ verachtete die Ansicht von Frederik Wasenius. Er bewunderte das Werk und hielt die Symphonie für eine Kampfansage „an die Oberflächlichkeit, die Bewunderung der äußeren Mittel, die leeren Machteinflüsse und die Vorherrschaft des Materiellen, an all das, was nahe daran ist, die moderne Musik hinunterzuschlucken“. Der Komponist stand der zwiespältigen Aufnahme gelassen gegenüber. „Das Konzert lief gut“, schrieb er. Sibelius erinnerte sich, dass die großen Komponisten zu ihrer Zeit schon immer unter Missverständnissen hatten leiden müssen. „Mit welchem Recht könnte ich für mich ein anderes Schicksal verlangen, als es andere große Talente vor mir zu tragen hatten?“, fragte er.
Im Sommer 1911 wurde Ainola renoviert, weil die Familie mehr Platz brauchte. Am 20. Juni wurde Tochter Heidi geboren. Das obere Stockwerk wurde im September bewohnbar. Im Arbeitszimmer des oberen Stockwerks bearbeitete Sibelius zuallererst die Suite der Pressetagung 1899. Die Suite wurde Scènes historiques (Historiallisia kuvia) benannt. Die Sätze All’overtura, Scena und Festivo wurden am 24. September vollendet.
Einen Monat später reiste Sibelius nach Berlin und fuhr aus einem momentanen Einfall heraus nach Paris weiter. „Also in Paris. Na gut, die Hauptsache ist, dass es dir gefällt. Du bist du und du wirst dich nicht ändern“, kommentierte Aino.
Sibelius hörte in Paris z. B. die Oper Salome von Richard Strauss, deren Instrumentation er für genial hielt. Sibelius traf seine Freunde und viele Künstler in der Stadt, aber seine Musik wurde in dieser Stadt immer noch wenig gespielt.
Sibelius kehrte noch vor seinem Geburtstag nach Hause zurück und sein Tagebuch füllte sich mit düsteren Eintragungen: Heirate nicht, wenn du deiner zukünftigen Frau nicht das bieten kannst, woran sie sich gewöhnt hat: dasselbe Dienstpersonal, dasselbe Essen, dieselbe Kleidung, dasselbe – mit einem Wort – Einkommen. Dieses Klagelied war unberechtigt und Aino schrieb auf Schwedisch auf diese Seite auch ihre eigene Anmerkung: „Mein entschiedener Einspruch.“
Sibelius‘ düstere Aufzeichnungen waren typisch für die dunkle Jahreszeit. Er litt in der Dunkelperiode an Depression und die düsterste Zeit für ihn war oft gerade vor seinem Geburtstag am 8. Dezember. Weihnachten munterte ihn meistens auf und das Herannahen des Frühlings brachte ihm seine beste Schaffenslust.
Zu Jahresbeginn 1912 vollendete Sibelius auch eine Neufassung des Werkes Der Liebende (Rakastava) für Streichinstrumente und Pauken, komponierte an dem Lied Lied der Bewohner von Uusimaa (Uusmaalaisten laulu) und bearbeitete die Suite Scènes historiques II (Historiallisia kuvia II) neu.
Er dachte auch über ein interessantes Angebot nach: Die Wiener Musikakademie hatte ihm die Professur für Kompositionslehre angeboten, weil Robert Fuchs, Sibelius‘ ehemaliger Lehrer, sich in absehbarer Zeit zur Ruhe setzen wollte. Obwohl ihm ein sicheres Einkommen sehr am Herzen lag, entschied er sich im März dafür, das Angebot abzulehnen, um sich ganz dem Komponieren widmen zu können.
Er war schon am Planen zweier neuer Symphonien: die Symphonie Nr. 5 und die Symphonie Nr. 6. Die Symphonie Nr. 6 benannte er in seinem Tagebuch vorerst Die Tochter der Natur (Luonnotar).
Die große Kompositionsarbeit im Frühling 1912 war die Vollendung der drei kürzeren Orchesterkompositionen. Sibelius hatte die Idee, sie in einer Suite zusammenzufassen und das Ganze Scènes historiques II (Historiallisia kuvia II) zu benennen. Die Kompositionen wurden am 29. März, gerade vor der Uraufführung fertig.
Das Konzert war ein absoluter Erfolg. Das Hören der Symphonie Nr. 4 klärte jetzt nach Ansicht des Kritikers Otto Kotilainen „die merkwürdige Problematik auf, die beim ersten Zuhören vor einem Jahr im Konzert im Gedächtnis blieb“. Kotilainen war von Scènes historiques II (Historiallisia kuvia II) begeistert. Er sah eine Verwandtschaft zwischen diesem Werk und der Symphonie Nr. 4 und lobte in „Helsingin Sanomat“ „den einzigartigen Farbenreichtum und den Erfindungsreichtum der thematischen Arbeit“ des letzten Satzes. Das vor zehn Jahren komponierte Werk Lebenslust (Livslust, Elämänhalu) für Frauenchor und Orchester stellte den Ausklang des Konzerts dar.
Dieses Konzert wurde noch zwei Mal wiederholt, aber trotzdem wurde um jede Eintrittskarte gekämpft. Nach dem Konzert im Gewerkschaftshaus überreichte Kajanus Sibelius nach der Symphonie Nr. 4 einen Lorbeerkranz, auf dem „Dank für die zwanzig Jahre“ zu lesen war. Das war natürlich eine Anspielung auf die Uraufführung von Kullervo 1892.
Robert Kajanus
Den Sommer 1912 verbrachte Sibelius in Kuhmoinen und arbeitete drei seiner Klaviersonatinen um. Im September reiste der Komponist auf Einladung von Granville Bantock wieder nach Großbritannien. Sibelius dirigierte am 1. Oktober auf den Musikfestspielen in Birmingham die Symphonie Nr. 4 und die Fachleute waren begeistert. Die „Times“ bewertete Sibelius „als einen weit wichtigeren Komponisten in der modernen Musik als Finlandia und Eine Sage (Satu, En Saga) hätten vermuten lassen.“
Die internationalen Auftritte wurden im November in Kopenhagen fortgesetzt. Sibelius wählte die Symphonie Nr. 4, das Werk Scènes historiques II (Historiallisia kuvia II) sowie das Werk Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu) in sein Konzertprogramm. Den Kritikern fielen Sibelius‘ zitternde Hände auf. Nervosität und Zittern plagten ihn schon damals und diese Symptome wurden im Alter noch deutlicher.
Anfang des Jahres 1913 musste er noch Schlimmeres erleben, als die Symphonie Nr. 4 in den Konzertsälen der Welt aufgeführt wurde. Schon im Dezember 1912 hatten die Wiener Philharmoniker sich geweigert, die Symphonie zu spielen, ungeachtet des Flehens von Kapellmeister Felix Weingartner. Der Komponist wurde für einen unbegreiflichen Modernisten gehalten. Im Februar in Göteborg „wurden die wenigen vorsichtigen Applausversuche durch laute, missbilligende Äußerungen gedämpft“, wie der Chefdirigent des Göteborger Orchesters und Komponist, Wilhem Stenhammar, ihm schrieb.
Im März wurde die Symphonie Nr. 4 zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten aufgeführt. Walter Damrosch dirigierte das Werk in New York und warnte im Voraus das Publikum vor der Eigentümlichkeit des Werkes. Etliche Zuhörer flüchteten auch zwischen den Sätzen. „Authentisch, erschreckend individuell und erschreckend unverfälscht“, kommentierte „Musical America“. W. M. Humiston konstatierte allerdings am 9. August in derselben Zeitung, dass die Musik von Sibelius klinge „wie merkwürdige Versuche eines schlecht oder gar nicht ausgebildeten Amateurkomponisten“.
Noch im Oktober wurde ein von Carl Muck dirigiertes Konzert in Boston mit Bestürzung aufgenommen. „Die neueste Symphonie des bedeutendsten finnischen Komponisten war zum größten Teil ein Durcheinander von allerelendsten Dissonanzen. Sie überragt die traurigsten und sauersten Augenblicke bei Debussy“, schrieb das „Boston Journal“. „Seine Symphonie Nr. 4 ist ein trauriges Versagen“, schlug „Boston American“ zu. „Die Aufbereitung ist bezeichnend für das 20. oder vielleicht auch für das 21. Jahrhundert (…). Das dissonierende, trübsinnige Gemurmel führte eigentlich nirgendwohin“, warf „Boston Record“ vor.
Die Kritik war aus der Perspektive des Jahres 1913 nichts Außergewöhnliches. Das Werk Elektra von Richard Strauss wurde mit „dem Knarren von verrosteten Scharnieren“, „dem Schreien von Babies“ und „dem Quietschen von Ratten“ verglichen. Die Musik von Claude Debussy wiederum wurde um die Wende des Jahrzehntes mit Wörtern wie „hässlich“, „leidenschaftslos“ und „impotent“ beschrieben. Der finnische Komponist war in guter Gesellschaft: in der vordersten Linie der Musikerneuerer.
Richard Strauss
Sibelius verbrachte das Jahr 1913 in Finnland. Zu seinen vollendeten Kompositionen gehörte das kultivierte und beherrschte Werk Der Barde (Bardi), das am 27. März 1913 in Helsinki uraufgeführt wurde. Die Bewertungen waren respektvoll und auch die Symphonie Nr. 4 bekam „kräftigen Beifall und Bravo-Rufe“.
Im Sommer hatte die Familie Sibelius Anlass zur Freude, als die Hochzeit der ältesten Tochter Eva und des in der Nachbarschaft wohnhaften Arvi Paloheimo am 10. Juni in Ainola gefeiert wurde. Sibelius‘ Arbeitseifer schien gut zu sein: Während des Sommers komponierte er eines seiner großen Meisterwerke, Die Tochter der Natur (Luonnotar) für Sopran und Orchester. Dieses Werk wurde am 10. September auf den Gloucester Musikfestspielen von Aino Ackté uraufgeführt. Die „Times“ lobte den Komponisten, der über „eine außerordentlich reiche Fantasie und einen deutlich individuellen Stil verfügt“. Der Text auf Finnisch und die lange unveröffentlicht gebliebene Partitur waren die Ursachen, dass das Werk im Repertoire nur langsam seinen Platz fand.
Die Tagebucheintragungen wurden wieder düsterer, wie jedes Jahr, wenn die Tage kürzer und dunkler wurden. „Mein Gemüt ist krank, zum größten Teil auf Grund des Bruchs mit allen meinen Freunden. Warum? Ich bin doch selber schuld“, schrieb er am Altjahrtag.
Und dennoch war 1913, was das Komponieren anging, ein fantastisches Jahr gewesen. Auch die für das königliche dänische Theater geschaffene Musik zur Pantomime Scaramouche sowie viele kleinere Werke waren Beweise seiner Schöpfungskraft.
Anfang 1914 reiste Sibelius für über einen Monat nach Berlin, um zu komponieren und um neue Musik zu hören. An der Heimatfront war alles in Ordnung: „Unsere ganze Ehe und die Liebe werden stärker und gedeihen immer besser“, schrieb seine Gattin.
Sibelius hörte sehr verschiedenartige Aufführungen in Berlin. Von dem Violinconcerto von Paul Juoni und dem Klavierconcerto von Weissman hatte der Komponist das Gefühl, sie beinhalteten Sibelius-Einflüsse. Debussy, Mahler, Strauss, der junge Korngold und Arnold Schönberg interessierten ihn mehr. Sibelius spendete der Kammersymphonie von Schönberg begeistert Applaus, während gleichzeitig ein Teil des Publikums das dissonante Werk ausbuhte.
„Dass man die Sache so sehen kann, geht schon in Ordnung. Aber eine Ohrenpein ist es schon“, schrieb er in sein Tagebuch. Aino und seinen Interviewern gegenüber erwähnte er während des Frühlings und Sommers oft sein Interesse für Schönberg und lobte den Komponisten.
Sibelius komponierte Rondo der Wellen (Aallottaret), zuerst als eine dreisätzige Skizze, deren erhaltene Teile II und III erst im Herbst 2002 in Lahti uraufgeführt wurden. Als nächstes wurde die „Yale-Fassung“ in einem Satz in Des-Dur fertig, die Sibelius im Frühling an den Auftraggeber bei den Norfolk Musikfestspielen schickte. Als der Komponist beschloss, in die Vereinigten Staaten zu reisen, um selbst die Uraufführung zu dirigieren, überarbeitete er das Werk noch einmal, machte es einheitlicher und wählte D-Dur als Tonart. „Die Yale-Fassung“ blieb bei Carl Stoeckel, der sie in der Universität Yale deponierte. Sie wurde auch erst im Herbst 2002 aufgeführt. Die endgültige D-Dur-Fassung dagegen brachte Sibelius viel Erfolg und er genoss auf seiner Reise sowohl die beispiellose Gastfreundlichkeit von Stoeckel als auch das Niveau des Festspielorchesters, das aus den besten Orchestermusikern an der US-Ostküste zusammengestellt war.
Carl Stoeckels Haus, in dem er Sibelius bewirtete
Sibelius war in diesen Konzerten ganz in seinem Element als Dirigent. Hits wie Die Okeaniden (Aallottaret), Finlandia und Valse triste faszinierten das Publikum.
Henry Krehbiel, einer der großen Kritiker in den Vereinigten Staaten, bestätigte die Einzigartigkeit der Aufnahme von Sibelius in den USA. Seiner Meinung nach war Die Okeaniden (Aallottaret) „eine der schönsten Schöpfungen der Wassermusik, die jemals komponiert worden ist“. Nach Krehbiel war Sibelius ein Weltgenie, eine ebenso eindrucksvolle Erscheinung auf dem Dirigentenpult wie Richard Strauss oder Arturo Toscanini.
Die „New York Tribune“ bezeichnete das Werk Die Okeaniden (Aallottaret) „als die bisher interessanteste Komposition des Meisters“. Auch die „New York Times“ hielt Sibelius‘ Auftritt für das bedeutungsvollste Ereignis auf den Norfolk Musikfestspielen. „The American“ schrieb, dass er sogar der faszinierendste und beliebteste Künstler aller Zeiten in Norfolk gewesen wäre.
The Shed, der Konzertsaal in Norfolk
Sibelius brachte mit Die Okeaniden (Aallottaret) nach der vernichtenden Kritik über die Symphonie Nr. 4 eine Gesinnungsänderung unter den amerikanischen Kritikern zustande. Viele Kritiker, Dirigenten und andere einflussreiche Personen der Musikwelt in den Vereinigten Staaten lernten Sibelius und seine Musik gerade in Norfolk kennen. Ihre Begeisterung war in den kommenden Jahrzehnten zu sehen, als Sibelius zum beliebtesten lebenden Komponisten in den Vereinigten Staaten wurde.
Sibelius war noch lange nach den Konzerten Gast der Familie Stoeckel. Sie nahmen ihn an die Niagarafälle und an die Universität Yale mit, in der der Komponist zum Ehrendoktor promoviert wurde. Durch einen Zufall wurde Sibelius während seiner Reise in den Vereinigten Staaten die Ehrendoktorwürde auch von der Universität Helsinki verliehen. Aino durfte ihn bei den Feierlichkeiten in der Heimat vertreten.
Sibelius als Ehrendoktor an der Universität Yale
Sibelius war überglücklich. Er plante eine profitable Tournee in den Vereinigten Staaten, vielleicht schon für das kommende Jahr und schrieb seinem Bruder, dass seine finanziellen Probleme durch diese Tournee gelöst würden.
Es kam jedoch anders. Sibelius erfuhr auf der Heimreise von dem Attentat von Sarajevo und als er endlich zu Hause ankam, war der erste Weltkrieg drauf und dran zu beginnen. Die Kontakte mit dem deutschen Verleger wurden schwieriger, als Deutschland mit Russland in den Krieg geriet. Finnland, obwohl nur autonomer Teil von Russland, war für die Deutschen Feindesland. Sibelius konnte keine regelmäßigen Verbindungen mit seinem Verleger pflegen und er musste auch auf die Reise in die Vereinigten Staaten verzichten.
Der Komponist hatte nach der Halsoperation auf seine inneren Stimmen gehört. Als er dabei war seinen Stil so zu verändern, dass die Harmonien allmählich verständlicher wurden, seine Natur wieder geselliger wurde, verschloss sich ihm die Welt wegen des Krieges.