Sibelius begann Ende Februar 1909 in London damit, ein Tagebuch zu führen. Er hatte ein großes Heft mit sich genommen und auf der ersten Seite seine Wechsellage choronologisch aufgelistet, um die Situation während der Reise besser verfolgen zu können.
Das Heft wurde jedoch nicht nur ein Mittel zur wirtschaftlichen Buchführung, obwohl Sibelius darin seine Geldangelegenheiten mit Rot und die Daten der Fertigstellung von Kompositionen mit Grün unterstrich. Außer für die Buchführung brauchte er sein Tagebuch als Ersatz für einen „Freund“. Vor knapp einem Jahr hatte er eine Halsoperation überstanden und vorläufig das Zigarrenrauchen und den Alkoholgenuss aufgegeben. „Lass dich weder zu Rauchen noch Schnaps verleiten. Klecks’s lieber in dein Tagebuch. Vertrau dem Papier deine schlechte Laune an“, schrieb Sibelius.
Für wen schrieb denn Sibelius eigentlich seine Tagebuchtexte? „Dieses Tagebuch dürfen nur ich und Aino lesen – eventuell auch eine dritte Person“, schrieb er. Ob er mit der dritten Person ein Familienmitglied oder vielleicht den Autor seiner künftigen Biographie gemeint hatte?
In Sibelius’ Nachlass wurden zwei große dicke Notizhefte gefunden. Das erste hatte der Komponist Ende 1913 vollgeschrieben. Aus dem Frühjahr 1914 stammen einige lose Blätter. Im August 1914 fingSibelius mit einem neuen Heft an. In dieses schrieb er regelmäßig bis Ende der 1920er Jahre. Gegen Ende des Jahrzehntes wurden die Vermerke und Notizen immer seltener und hörten allmählich ganz und gar auf. Einer der letzten Prozesse, die im Tagebuch beschriebenen werden, war im Jahr 1927 der Kampf des Komponisten, um Mäßigkeit in seinem Alkoholverbrauch zu erringen. Dieser Kampf endete für den Komponisten siegreich, denn er wurde beinahe 92 Jahre alt.
Aus den Jahren 1928-1935 gibt es sehr wenige Notizen. Im August 1943 kehrte Sibelius für ein Paar Monate an sein Tagebuch zurück und dokumentierte u.a. seine negative Haltunge dem Nationalsozialismus gegenüber. Aus dem Januar 1944 gibt es zwei Notizen, gefolgt von einer von Sibelius eingetragenen Einkaufsliste. Mit einer undatierten und schwer zu interpretierenden Meinungsäußerung endet die Tagebuchführung des 80-jährigen Komponisten.
Professor Fabian Dahlström hat eine vollständige Analyse der beiden Tagebücher vorgenommen. Die Analyse enthüllt, dass Sibelius in seinen Heften folgende Sprachen benutzte:
ca. | 90 000 | Wörter | Schwedisch |
352 | „ | Deutsch | |
271 | „ | Latein | |
227 | „ | Französisch | |
61 | „ | Finnisch | |
17 11 | „ | Englisch Italienisch | |
4 | „ | Russisch |
Von seinen unvollendeten Werken nennt Sibelius 34, und in den Tagebüchern gibt es zwei Listen von Kompositionen, die eine Neubearbeitung erwarteten. Die eine nennt die Namen von achtzehn und die andere die Namen von acht Werken. Der Komponist schrieb nur sehr wenige Noten in seine Tagebücher. In den Heften finden sich nur sechs Themen, unter ihnen der „Kuckucksruf”
Im Tagebuch schreibt über Sibelius Wetterberichte, Geldangelegenheiten, Naturerscheinungen, Leute, die er getroffen und mit denen er Gespräche geführt hatte. Er erzählt von Ereignissen im Alltag, Reisen und Familienfesten. Die Tagebücher enthüllen auch die düsteren Zeiten des Komponisten. Negative Kritik entmutigte ihn, wie auch die Perioden, in denen die eigene Frau mit ihm nicht sprechen wollte (obschon oft zu Recht). Seiner Familie erwähnte er ab und zu, dass er ginge, seine schlechte Laune in sein Tagebuch wegzuschreiben, und einmal nannte er sein Tagebuch seinen „Spucknapf“. Das Tagebuch stellt Sibelius als eine ein wenig melankolischere Person vor als man ihn in der Wirklichkeit kannte.
Erik Tawaststjerna, der Autor der Sibelius-Biographie in fünf Teilen, verinnerlichte die Gedankenwelt des Komponisten auf eine Weise, die noch niemand übertroffen hat. Es ist ihm gelungen, in den Tagebüchern die vielen Rollen des Komponisten zu begreifen, die dieser beim Schreiben spielte.
Pathetiker: „Der Tod! Du musst mit deinem Schicksal fertig werden. Mach’ deine Arbeit so lange du kannst. Wieviel Zeit du schon vergeudet hast!“
Ironiker: „So ein Fanatiker!“
Beobachter: „Es scheint mir, ich werde nie die Kunst der Arbeit lernen! Jene Liebe zum Schreibtisch.“
Satiriker: „Die Tische, die ich geliebt habe, waren schon mit Tüchern bedeckt und mit Flaschen dekoriert.“
Tröster: „Auf meine eigene Weise gearbeitet. Vielleicht führt das zum Ziel.“
Die Tagebücher sind eine wirkliche Schatzkammer für den Forscher. In mehreren Sibelius-Büchern sind schon ausgewählte Zitate herausgegeben worden, und heute können sich die Forscher mit diesen im finnischen Nationalarchiv, eine spezielle Erlaubnis vorgesetzt, vertraut machen. Eine Gesamtherausgabe der Tagebücher als eine kritische Edition lässt immer noch auf sich warten.