Bis zum Jahre 1982 begündete sich die Erforschung von Sibelius’ Musik zum größten Teil auf gedruckten Noten und Partituren. Dies lag daran, dass nur ein kleiner Teil der von ihm aufbewahrten Manuskripte für die Forscher vorhanden war. In Finnland gibt es in diesem Augenblick drei Stellen, wo sie aufbewahrt werden:
- Nationalbibliothek (früher: Universitätsbibliothek Helsinki), wo es 1970 Reinschriften von den im Auktionshaus Southeby’s in London erworbenen Miniaturwerken gab sowie einige zur Aufbewahrung gegebene Partituren wie zum Bespiel die Kullervo-Symphonie (Besitzer Kalevalaseura)
- Das Sibelius-Museum in Turku, wo es außer den eigenhändigen Reinschriften von Sibelius viele in Uraufführungen benutzte Stimmenblätter fürs Orchester gibt.
- Die Sibelius-Akademie.
Im Jahre 1982 verschenkten Sibelius’ Nachkommen alle in ihrem Besitz befindlichen Manuskripte an die Universität. Das Material wurde in der Universitätsbibliothek untergebracht und der dort schon vorhandenen Sammlung hinzugefügt. Dadurch stieg die Anzahl der Manuskripteinheiten mächtig an: von etwa sechzig bis nahezu zweitausend.
Das geschenkte Material war also mengenmäßig enorm. Überdies war es desto bedeutender, weil es nicht nur aus Reinschriften der Werke, die schon seit früher bekannt waren, sondern auch aus Entwürfen in den verschiedensten Stufen bestand: von den ganz ersten thematischen Niederschriften bis zu weiter entwickelten Entwürfen, von Entwürfen zur Orchestrierung und zu vielerleien Konzepten. Dazu kamen noch Manuskripte, die für Sibelius zuerst als Reinschriften gegolten hatten, aber deren Weiterkomponieren er nachher jedoch zu eigentlichen Werken fortgesetzt hatte. Weiter gab es Material, das mit der Veröffentlichung der Werke verknüpft war, wie an die Notengraveure gesandten Exemplare und von Sibelius selbst korrigierten Korrekturen. Zur Donation gehörte auch der größte Teil seiner Jugendwerke, die früher ziemlich unbekannt geblieben waren, zahlreiche Harmonisierungs-, Kontrapunkt- und Übungsarbeiten wie auch einige früher unbekannte Kompositionen von einem reiferen Sibelius. Als Zugabe gab es Niederschriften zur Volksmusik.
Mit der Donation öffnete sich ein völlig neues Gebiet für die Sibelius-Forschung, denn zum ersten Mal gab es jetzt eine Möglichkeit, in die Arbeit des Komponisten hineinzublicken, d.h. wie die Werke richtig entstanden waren und wie sich der Prozess bis zu deren Veröffentlichung abgelaufen war. Außerdem wurde es möglich, mit Hilfe des Papiers, der Tinte und der Handschrift, den Zeitpunkt der Entstehung von vielen in der Literatur früher falsch datierten Werken zu korrigieren sowie die Jugendwerke zeitlich verhältnismäßig genau festzulegen. Unter den Manuskripten gibt es auch sehr viel sonstiges Material wie Briefkonzepte, tagebuchartige Vermerke, Notizen verschiedener Art usw., was alles für die Forscher von Interesse ist.
Das Allerwichtigste ist jedoch, dass es jetzt möglich ist, indem man Musikmanusskripte aus Sammlungen anderer Quellen benutzt, einerseits Sibelius’ bis auf weiteres unveröffentlichte Werke herauszugeben und anderseits die Fehler zu finden und korrigieren, die sich in den Noten seiner schon veröffentlichten Werke eingeschlichen haben. Und es gibt überraschend viele Fehler, denn die Notengraveure mussten in ihre Metallplatten oft Manuskripte kopieren, die ziemlich schwer zu interpretieren waren; außerdem veränderten sie selbst Noten mehr oder weniger auf eigene Faust. Die gesammelten Werke von Jean Sibelius (Jean Sibelius Works / Jean Sibelius’ Werke, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, als Verleger) ist ein Projekt, das sich mit der Korrigierung und Veröffentlichung beschäftigt. Die Absicht ist es, Sibelius’ sämtliche Werke in einer kritisch korrigierten Edition auf Grund der aufbewahrten Manuskripte herauszugeben.
Außer den obenerwähnten Stellen gibt es Sibelius’ Musikmanuskripte bei seinen Verlegern Breitkopf & Härtel und Robert Lienau. Lienaus Sammlung ist nicht besonders groß, weil Lienau eine ziemlich geringe Rolle als Verleger für Sibelius’ Werke spielte. Breitkopf wiederum verlegte den Hauptteil von Sibelius’ Werken, aber aus irgendeinem Grunde ist der größte Teil der von Sibelius an Breitkopf gesandten Manuskripte (u.a. die Partituren zu den Symphonien Nr. 1, 2 und 4, Die Okeaniden (bzw. Rondo der Wellen), Tapiola und viele andere) verschwunden, und niemand weiß, wo sie sind. Auch der dänische Verlag Edition Wilhelm Hansen hatte viele Manuskripte, aber es war gelungen, diese außer einem in die Sammlung der Universtitätsbibliothek Helsinki zu kaufen. Der bedeutendste finnische Sibelius-Verleger Verlag Fazer (heute Fennica Gehrman Oy) seinerseits deponierte die Exemplare in seinem Besitz schon seit vielen Jahren in der Universitätsbibliothek Helsinki.
Andere Stellen, wo Musikmanuskripte von Sibelius hingewandert sind, sind verschiedene Bibliotheken und Archive sowohl in Finnland als im Ausland sowie Sammlungen von Privatpersonen. Die Anzahl dort verwahrter Werke ist jedoch recht gering. Ab und zu werden einzelne Manuskripte in internationalen Auktionen zum Verkauf angeboten, aber die Preise sind normalerweise so hoch, dass es schwierig für offentliche Bibliothekten oder Archive ist, sie in ihre Sammlungen anzuschaffen. Dies ist ein Schaden, wenigstens was die Forschung betrifft, weil die Forscher keinen Zugang zu den Exemplaren in den Privatsammlungen haben.
Obwohl eine bedeutende Menge von Sibelius’ Musikmanuskripten aufbewahrt ist, ist vieles jedoch auch verlorengegangen. Es ist bekannt, dass Sibelius selbst seine Manuskripte zu verschiedenen Zeiten verbrannte, und diese Stücke sind endgültig weg. Aber er auch teilte seine Manuskripte auch an andere Leute aus, wenigstens in seiner Jugend, und solche Exemplare können irgendwo versteckt sein und sind noch nicht aufgetaucht. Außer den bei Breitkopf gebliebenen Manuskripten sind auch an viele zufällige Verleger (zum Beispiel Carl Fisher in New York) gesandte Manuskripte verschwunden. Man kann wohl darauf hoffen, dass auch diese irgendwann gefunden werden. Dieses wäre wichtig, weil die verschwundenen Manuskripte für die Herausgeber der sämtlichen Werke große Schwierigkeiten machen. Die Entdeckung der vermissten Manuskripte ist auch von allgemeinerem Belang, denn jedes aufgetauchte neue Dokument, das mit Sibelius zu tun hat, gibt uns neue Kenntnis von einem der bedeutendsten Komponisten aller Zeiten.