Albert Edelfelt malte im Herbst 1904, nach der Fertigstellung von Ainola, ein Porträt von Sibelius. Das Gemälde befindet sich auch heute noch in Ainola.
Im Herbst 1904 war ein großer Teil von Sibelius‘ zentralen Orchesterwerken schon gedruckt und die Kapellmeister und Dirigenten führten sie mit gutem Erfolg überall in der Welt auf. Anfang des Jahres war die Symphonie Nr. 2 ein glanzvoller Erfolg in Hamburg, Chicago und Moskau gewesen, in St. Petersburg hingegen war sie gar nicht so gut angekommen. Im März hatte der junge Arturo Toscanini Eine Sage (Satu, En saga) und Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) in Italien dirigiert und etwas später auch Finlandia.
Das Copyrightsystem war damals noch schlecht entwickelt und der die Copyright-Rechte regelnde Vertrag von Bern galt nicht für Finnland, das nur ein autonomer Teil von Russland war. Sibelius bekam nur für einen Teil der Aufführungen Vergütung.
Das Leben schien sich nicht zu beruhigen, obwohl Sibelius vor den Versuchungen Helsinkis nach Ainola geflüchtet war. Ende des Jahres gab Sibelius Konzerte in Pori und Oulu und machte den Fehler, dass er vermutlich von unterwegs betrunken zu Hause anrief. Aus dieser Situation entwickelte sich ein beinahe verzweifelter Briefwechsel der Eheleute. Am 4. Dezember schrieb Aino, dass sie Angst hätte, weil „etwas dabei ist, kaputt zu gehen“. „Wach auf Janne, wach endlich auf, um zu sehen, wer du bist!“ verlangte die Gattin. „Ich werde mich ändern. Wahrhaftig! Dein trauriger Liebling“, antwortete Sibelius. Die Lage beruhigte sich während der Weihnachtszeit. Als der Komponist im Januar 1905 nach Berlin fuhr, entströmte den Briefen des Ehepaares Vertrauen und Liebe.
Sibelius verbrachte seine Zeit in Berlin mit Paul, Busoni, Sinding und dem Violisten Willy Burmester. Er machte sich mit mehreren bedeutenden Werken bekannt, wie mit der Symphonie Nr. 5 von Mahler, den Nokturnen von Debussy und dem Heldenleben von Strauss. Er selbst komponierte Bühnenmusik, Pelléas und Mélisande.
Busoni hatte ihn eingeladen, seine Symphonie Nr. 2 zu dirigieren und das Konzert am 12. Januar wurde ein großer Erfolg. Die Symphonie wurde in Berliner Zeitungen enthusiastisch aufgenommen: die „National-Zeitung“ bezeichnete die Symphonie Nr. 2 als großartig und „Die Musik“ hielt Sibelius für einen der großen schaffenden Geister des Zeitalters. Hingegen behauptete die „Allgemeine Zeitung“, dass Sibelius in eine Sackgasse geraten sei und Leopold Schmidt vom „Berliner Tageblatt“ schrieb, dass der Komponist nur mühevoll mit großen Formen umgehen könne. Jedoch musste Schmidt zugeben, dass Sibelius ein erfolgversprechendes Talent und ein Meister im Komponieren von Orchesterwerken sei.
Sibelius schloss mit Robert Lienau in Berlin einen neuen Verlagsvertrag ab. Der Komponist war es müde, seine Angelegenheiten mit Breitkopf & Härtel hauptsächlich durch Vermittlung finnischer Verleger zu erledigen. Nach dem Kontrakt mit Lienau sollte Sibelius wenigstens vier größere Werke pro Jahr komponieren. Auch von erheblichen Summen war die Rede gewesen, im Gegenwert von heute etwa 34 000 Euro pro Jahr. Wenn Sibelius‘ Rente und die Honorare für Konzerte einbezogen werden, entsprach sein Jahreseinkommen in den folgenden Jahren sogar 50 000 Euro in heutigem Geld.
Siehe Sibelius‘ Vermögen und Schulden
Sibelius vermutete in seinem Brief, dass das Leben jetzt auf sicherem Grund stehe. Er ließ in Ainola eine Sauna einbauen und bezahlte einige seiner Wechsel. Sibelius‘ Einkommen hätte zu einer beachtlichen Abschlagzahlung auf seine Schulden reichen müssen, aber wegen seines Lebensstils hielten die finanziellen Schwierigkeiten an.
Als Sibelius nach Finnland zurückkehrte, stellte er sich im März 1905 als Dirigent der Bühnenmusik Pelléas und Mélisande vor. Das Theaterereignis des Jahres brachte auch Sibelius zusätzlichen Erfolg und er arbeitete das gelungene Werk auch zu einer Orchestersuite um. Sibelius dirigierte im Frühling u. a. auch in Wyborg und konzentrierte sich danach auf den Gedanken, was er mit seinen Skizzen machen sollte. Er probierte seine Themen zum Beispiel an einem Oratorium aus, das Marjatta heißen sollte und das er auf der Grundlage einer Idee von Jalmari Finne ausarbeitete. Sibelius arbeitete an dem Oratorium bis Ende des Jahres, gab aber letzten Endes das Vorhaben auf. Materialien des Oratoriums gelangten jedoch in die Dichtung Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) und allem Anschein nach auch in die Symphonie Nr. 3 und in das Werk In memoriam, das als Gedächtniswerk für Eugen Schauman geplant war. Eugen Schauman hatte den als Unterdrücker Finnlands bekannt gewordenen Generalgouverneur Nikolai Bobrikov ermordet. Sein Nachfolger, der neue Generalgouverneur, übte seine Macht gemäßigter aus. Der Kaiser hatte im November sogar ein Manifest herausgegeben, in dem ein großer Teil der Unterdrückungsmaßnahmen von Bobrikov und dem russischen Regime aufgehoben wurde.
Sibelius war im November 1905 eingeladen, seine Werke sowohl in Heidelberg als auch in Liverpool zu dirigieren. Er entschied sich zum ersten Mal nach Großbritannien zu reisen. Sibelius machte bedeutungsvolle neue Bekanntschaften, zum Beispiel mit dem Komponisten und Kapellmeister Granville Bantock, der ihn eingeladen hatte, mit Rosa Newmarch, die freundlich und einflussreich war, mit dem Kritiker Ernest Newman und mit dem Kapellmeister Henry Wood.
Ernest Newman, Kritiker
Sibelius dirigierte am 2. Dezember mit Erfolg die Symphonie Nr. 1 und Finlandia in Liverpool. „Ich habe noch nie so eine Musik gehört, die mich so total aus dem alltäglichen abendländischen Leben gerissen hätte“, kommentierte Newman bewundernd im „Manchester Guardian“. „Ein großer Erfolg. Der Beifall war richtig überwältigend”, kommentierte auch Sibelius an seine Aino.
Sibelius reiste weiter nach Paris, aber die französische Musikwelt zeigte kein besonderes Interesse an ihm. Sibelius konzentrierte sich auf seine Arbeit und zur Jahreswende auch auf das Feiern.
Der Maler Oscar Parviainen fand Sibelius, der mehrere Tage ohne Pause durchgefeiert hatte, in einen schäbigen Frack gekleidet im Café de la Regence. Dies geschah vier Tage nach den von Finnen organisierten Runeberg-Feierlichkeiten. Sibelius spielte „freie Fantasien“ für Oscar Parviainen und bezeichnete eine von ihnen als ein Gebet an Gott. Dieses Thema findet sich später im Finale der Symphonie Nr. 3 wieder und Parviainen malte ein Gemälde dazu. Das Bild hängt heute noch im Saal von Ainola, an der Wand hinter dem Flügel.
Siehe Kunstwerke im Saal von Ainola
Nachdem Sibelius nach Hause zurückgekehrt war, begann eine für ihn so typische monatelange Arbeitsperiode, während der er seinen Schreibtisch nur dann verließ, wenn er sich zu Tisch begab oder seinen täglichen Spaziergang machen wollte. „Die Kinder wussten gefühlsmäßig, wie sie sich zu benehmen hatten und was die Achtung vor Vaters Arbeit von ihnen verlangte. Und genau so fühlte sich jedes von ihnen wie freigelassen, wenn der Vater wieder zu schreiben anfing“, erinnerte sich Aino Sibelius später. „Dann wussten wir, dass die endgültige Form des Werkes gefunden worden war, der Entstehungszeitpunkt da war. In solchen Phasen konnte mein Mann sogar 48 Stunden lang durcharbeiten, ohne sich von seinem Schreibtisch wegzubegeben.“
Als Ergebnis dieses tüchtigen Schaffens wurde zuerst die Bagatelle Pan und Echo (Pan ja kaiku) fertiggestellt und dann am 12. Mai die Kantate Die gefangene Königin (Vapautettu kuningatar) zu den Feiern von J. V. Snellmans 100-jährigem Jubiläum. Der Schwerpunkt lag jedoch auf der neuen symphonischen Dichtung, die Sibelius in seinen Briefen als Die Tochter der Natur (Luonnotar) bezeichnet hatte. Gegen Ende der Kompositionsarbeit machte Sibelius noch Änderungen und passte das Werk an eine weitere Kalevala-Geschichte des Programms an. Die Figuren Väinämöinen und Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) waren jetzt in Hauptrollen. Nach langer Überlegung nannte er das Werk Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär).
Der Sommer 1906 war eine Zeit der Gegensätze. Die Familie verbrachte die heißen Tage in Virolahti, fischte und ruderte, aber Sibelius musste auch seine Schwester Linda im Krankenhaus besuchen, da die gesteigerte Sensibilität ihres Geistes in eine Krankheit ausgeartet war. Linda verbrachte den Rest ihres Lebens in einer Krankenanstalt, konnte aber dennoch gelegentlich Konzerte besuchen, Ainola Besuche abstatten und auch brieflich in Verbindung bleiben.
Im Sommer komponierte Sibelius sechs Lieder, Opus Nr. 50. Im Oktober vollendete er die Musik für die Uraufführung des Theaterstückes Belsazars Gastmahl (Belsazarin pidot). „Svenska teatern“, das schwedischsprachige Theater in Helsinki, war ausverkauft. Sibelius arbeitete die Bühnenmusik auch in eine Orchestersuite um.
Ende des Jahres dirigierte Sibelius seine Werke in Oulu, Wyborg, Vaasa und St. Petersburg, wo die Uraufführung von Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) im Konzert des Orchesters des „Mariinski-Theaters“ gut aufgenommen wurde. Auch die Kritiker waren begeistert. „Ein sehr begabter und phantasiereicher Komponist“, lobte zum Beispiel die Zeitung „Rusj“.
Das Jahr 1907 brachte Rückschläge mit sich. Sibelius fühlte sich wieder wohl in Restaurants und verschwendete zum Beispiel am 27. Januar, an diesem einzigen Abend, 500 Gegenwartseuro für Champagner, Branntwein und Hummer. Aino Sibelius machte sich wieder Sorgen, überanstrengte sich und musste in ein Sanatorium. Im Frühjahr 1907 war Sibelius ja auch reumütig. „Diese Zechgelage – an und für sich eine außerordentlich fröhliche Beschäftigung – sind viel zu weit gegangen“, schrieb er.
Während Aino sich erholte, komponierte Sibelius an seiner Symphonie Nr. 3 und las aus aller Welt eingetroffene Rezensionen. Armas Järnefelt hatte im Februar Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) mit gutem Erfolg in Stockholm dirigiert. Maud Powell hatte zur Jahreswende das Violinkonzert in New York und in Chicago gespielt und Anfang des Jahres waren u. a. Pelléas und Mélisande, das Violinkonzert und von Ida Ekman gesungene Lieder in Berlin zu hören. Die in Zeitungen veröffentlichten Kritiken waren weitgehend ausgezeichnet. Sibelius war einer der anerkanntesten zeitgenössischen Komponisten geworden.
Während des Sommers arbeitete Sibelius fleißig, machte auch eine Reise nach Berlin. Die Symphonie Nr. 3 wurde am 25. September endlich für ein Kompositionskonzert fertig. Die Symphonie war klassischer als die früheren Werke, was das Publikum etwas verwirrte. Unter den Kritikern war Flodin entzückt und schrieb, dass die Symphonie „allen Anforderungen entspricht, die an ein symphonisches Kunstwerk im modernen Sinn gesetzt werden können, aber gleichzeitig ist es innerlich neu und revolutionär – ganz und gar sibelianisch“. Nach „Helsingin Sanomat“ machte die Symphonie Nr. 3 keinen so unmittelbaren Eindruck wie die Symphonie Nr. 1 und die Symphonie Nr. 2.
Einen Monat später traf Sibelius den Komponisten Gustav Mahler, als dieser in Helsinki auf Besuch war und die Kollegen bemerkten, dass sie beide demselben Phänomen begegnet waren: Beide hatten durch eine neue Symphonie Zuhörer verloren, die von der vorangegangenen Symphonie entzückt gewesen waren.
Über das Wesen der Symphonie waren sie sich uneinig. „Ich sagte, dass ich die Strenge, den Stil und die tiefe Logik einer Symphonie bewundere, die die Vereinigung aller Motive miteinander verlangt“. „Nein, die Symphonie muss sein wie die Welt. Sie muss alles umfassen“, antwortete Mahler.
Gustav Mahler 1860-1911
Die Symphonie Nr. 3 hatte im November keinen Erfolg in St. Petersburg. „Er scheint sich oft in Berlin, London und Paris aufzuhalten. Dort steckt die Dekadenz von Debussy, Strauss und Elgar leicht an. Der frühere Sibelius, der bezaubernde Interpret der Sagen seiner Heimat, muss verabschiedet werden“, wurde in der Zeitung „Birzhevyja Vjedomost“ geschrieben. „Das Hauptgewicht seiner Symphonie liegt – in ihrer Kürze“, spottete die Zeitung „Rusj“. Auch die Komponisten hielten das Werk für eigenartig. Nikolai Rimski-Korsakov schüttelte den Kopf und sagte Sibelius: ”Warum komponieren Sie es nicht so, wie es Art ist? Sie werden sehen, dass das Publikum hier nicht mitkommt und nichts versteht“. In Moskau kamen die Konzerte besser an und der Kritiker von „Russkija Vjedomost“ lobte das neue Werk sogar.
Im Jahr 1908 rächten sich Sibelius‘ Lebensgewohnheiten: Er musste sich gleich zu Jahresbeginn für ein paar Wochen in das Diakonissenhaus in Pflege begeben. Axel Carpelan vermutete, dass der Komponist bald sterben würde, wenn dieser nicht „das Rauchen und das Trinken von starken Alkoholgetränken“ aufgäbe. Sibelius musste wegen seiner Krankheit die geplanten Reisen nach Rom, Warschau und Berlin absagen.
Ende Februar war er jedoch in der Lage, die vereinbarte Reise nach London anzutreten. Die selbstzerstörerischen Lebensgewohnheiten des Komponisten erschütterten Rosa Newmarch zutiefst. Mit seinem Konzert gelang es Sibelius nicht, die britischen Kritiker von der Vortrefflichkeit der Symphonie Nr. 3 zu überzeugen.
Sibelius kehrte via Berlin und Stockholm nach Hause zurück. Er war durchaus leistungsfähig und im April wurde die Bühnenmusik zu August Strindbergs Schwanenweiß (Joutsikki) fertig. Das Schauspiel ist in Helsinki gut angekommen, und Sibelius arbeitete auch diese Bühnenmusik in eine Konzertsuite um.
Im Mai wandte sich Sibelius wegen wiederholter Halsschmerzen an einen Arzt. In seinem Hals wurde eine Geschwulst gefunden. Der Komponist fuhr mit seiner Gattin nach Berlin und die Geschwulst wurde nach den notwendigen Voruntersuchungen entfernt. Sibelius beschloss den Alkohol und das Rauchen aufzugeben. Seine Enthaltsamkeit dauerte beinahe sieben Jahre.