Durch den ersten Weltkrieg war die Sicherheit von Sibelius nicht bedroht, weil die Kämpfe der Großmächte nicht auf finnischem Boden stattfanden. Der Krieg deprimierte ihn dennoch als eine menschliche Katastrophe und er machte sich Sorgen um die wirtschaftlichen Folgen des Krieges. Die Honorare aus dem Ausland hörten auf zu fließen und so musste er sehr viele kleine Kompositionen für die finnischen Verleger kritzeln, um den Konkurs zu vermeiden.
Anderseits quälte die Todesangst den Komponisten nicht mehr. Er wagte es wieder – zum ersten Mal nach seiner Halsoperation – Zigarren zu rauchen. Er fing auch an, zuerst sehr gemäßigt, Alkohol zu genießen.
Die Reise nach Göteborg im März 1915, also mitten im Krieg, stellte eine seltene Ausnahme dar. Die Aufnahme war ausgezeichnet: Die Göteborger verstanden ohne Weiteres die wichtigste Neuigkeit der Konzerte, Die Okeaniden (Aallottaret), obwohl die Symphonie Nr. 2 ihnen wahrscheinlich besser gefiel. Die Symphonie Nr. 4 wurde nach wie vor problematisch gefunden. Sibelius war zufrieden. „In dem ersten Konzert war ich nervös. Das zweite dirigierte ich vorzüglich”, schrieb er in sein Tagebuch.
Die Kompositionsarbeiten an der Symphonie Nr. 5 schritten gut voran. Am 21. April sah Sibelius sechzehn Schwäne und er schrieb auf der Stelle ein kleines Thema, das später in das Finale der Symphonie Nr. 5 gelangte. „Eines der großen Erlebnisse in meinem Leben! Herr Gott noch mal, wie schön!“, schrieb er feierlich.
Am 23. Mai brachte Sibelius‘ Tochter Eva eine Tochter zur Welt, die auf den Namen Marjatta getauft wurde und Sibelius nahm wahr, dass er Großvater geworden war. „Eigentümlich“, kommentierte der Komponist. Zu Hause hatten sie noch die 13-jährige trotzige Katarina, Margareta wurde bald sieben und Heidi vier Jahre alt. „Ich kann mich mein Leben lang an das Sicherheitsgefühl erinnern, das mich überwältigte, wenn ich in seinem Schoss saß“, erinnerte sich Margareta Jalas später. Aino unterrichtete während der Kriegsjahre diese jüngeren Kinder selbst. Als sie wieder in die Schule gingen, kamen sie gut mit.
Im Sommer kamen die Arbeiten an der Symphonie Nr. 5 kaum voran, weil Sibelius Kleinstücke komponierte und Sandels für den Chor „Muntra Musikanter“ erneute. „Ich werde 50 Jahre alt. Ich bin arm, so arm, dass ich Kleinstücke komponieren muss“, klagte er am 15. August in seinem Tagebuch. Die Symphonie wurde letztendlich gegen den 8.12. fertig, vor den Feiern zum 50. Geburtstag des Komponisten.
Die Uraufführung der Symphonie Nr. 5 war in Finnland ein großes, gesellschaftliches Ereignis, wie auch der Festabend im Börsensaal. Am Festabend hielt Kajanus seine berühmte Rede, in der er feststellte, dass Sibelius den finnischen Kompositionsstil geschaffen hätte. „Das Wenige, das bis dahin das Tageslicht gesehen hatte, war lediglich ein zarter Spross der deutschen Schule mit ein paar Zutaten aus der finnischen Volksmusik, die so zu sagen ethnographisch beigefügt waren“, sagte er selbstkritisch.
Man führte eine öffentliche Sammlung durch und kauften mit dem gesammelten Geld einen großartigen Steinway-Flügel, den man Sibelius schenkte. Aber bald nach den Feierlichkeiten markierte ein Gerichtsvollzieher diesen in Ainola. Im Februar 1916 konnte Sibelius‘ Lieblingssängerin Ida Ekman den Ertrag einer neuen Geschenksammlung nach Ainola bringen, mit dem sogar ein Drittel der Riesenschulden getilgt werden konnte. Der Steinway Flügel durfte dann doch in Ainola bleiben.
Die Symphonie Nr. 5 mit ihren heroischen Schlussschlägen war eine Erleichterung für das Publikum gewesen: Das Werk eröffnete sich dem Publikum viel leichter als die für schwierig gehaltene Symphonie Nr. 4. Sibelius selbst war mit seinem Werk nicht zufrieden und fing Anfang des Jahres 1916 an, es zu überarbeiten.
Während des Sommers bearbeitete Sibelius seine Symphonie, schuf mehrere Kleinstücke und die Musik zum Schauspiel Jedermann (Jokamies). Nach Aussage von Jalmari Lahdensuo, der das Werk bestellt hatte, interessierten Sibelius jetzt Skrjabins Ideen zu einer Orgel mit Lichteffekten. Die Musik zu Jedermann sollte jetzt auf die Ereignisse auf der Bühne in Realzeit reagieren, nicht als separate Nummern. So sollte „die mit Skrjabins optischen Mitteln vervollständigte Musik als umfangreichere und praktischere Anpassung“ geschaffen werden, erinnerte sich Lahdensuo.
Die Uraufführung des Schauspiels Jedermann (Jokamies) war am 6. November und es wurde behauptet, dass Sibelius‘ Musik den Abend gerettet hätte. Sibelius arbeitete die Musik, die eng mit den Ereignissen des Schauspiels zusammenhing, zu keiner Orchestersuite um, so dass sie in Vergessenheit geriet, obwohl das Schauspiel noch in den Jubeljahren 1935 und 1965 mit gutem Erfolg aufgeführt wurde. Die Qualität der Musik wurde in den 1990-Jahren wiederentdeckt, als die Aufnahmen von Osmo Vänskä mit dem Stadtorchester von Lahti erschienen.
An seinem Geburtstag, am 8. Dezember, dirigierte Sibelius die zweite Fassung der Symphonie Nr. 5 in Turku. Die zwei ersten Sätze waren jetzt genial aneinadergefügt, aber der zweite Satz hatte seltsame Änderungen erlebt und die es-Moll-Episode im Finale war entfernt. Die berühmten Schlussschläge waren zu zwei Schlussakkorden geschrumpft. Das Konzert wurde in Turku zwei Mal wiederholt.
Die neue Fassung war am 14. Dezember auch in Helsinki zu hören gewesen. Von den Kritikern lobte Evert Katila das Werk, aber Fredrik Wasenius alias Bis war wieder verstimmt. Seiner Meinung nach wäre das Zusammenfügen der zwei ersten Sätze keine sehr gelungene Lösung gewesen, die Pizzicatos der Streichinstrumente im zweiten Satz wären langweilig gewesen und am Ende des Finales hätte es übertriebene Dissonanzen gegeben. Sibelius fasste den Entschluss, die Symphonie noch einmal zu überarbeiten.
Anfang des Jahres 1917 waren aus dem gemäßigten Alkoholgenuss von Sibelius wieder gelegentliche Zechgelage geworden, was die Beziehung der Ehegatten komplizierte. Am 2. März brachten die vom Bechern verursachten Streitigkeiten Sibelius dazu, dass er in seinem Tagebuch über Scheidung nachdachte. „Und unser Leben nach der Scheidung! Wie wäre es dann?“, überlegte der Komponist.
Die Zwistigkeiten wurden vergessen, als die Revolution in Russland auch die Familie Sibelius in Begeisterung versetzte. Der Senat änderte seinen Namen in „Senat Finnlands“ und ließ politische Gefangene frei.
Sibelius blieb in Ainola und komponierte Kleinstücke von hoher Qualität, wie die Humoresken (Humoreskeja) und eine Serie von Liedern, op. 88. Die Kinder verließen allmählich Ainola: Auch Ruth hatte geheiratet und jetzt wohnte auch Katarina, die die 8. Klasse einer gemischten Schule in Helsinki besuchte, während der Woche in der Stadt. „Mein Herz blutet“, schrieb Sibelius in sein Tagebuch. Es blieben nur noch die Kleinen, Margareta und Heidi, die wesentlich jünger waren als die anderen Geschwister.
Finnische Jäger während des 1. Weltkriegs in Libau
Gegen Jahresende verschärften sich in Finnland die gesellschaftlichen Spannungen und sowohl die Roten als auch die Schutzkorps wurden überall im Land aufgerüstet. Sibelius nahm politisch Stellung, indem er den Marsch der finnischen Jäger (Jääkärien marssi) zu Heikki Nurmios Text „in hoher vaterländischer Stimmung“ komponierte. Noch konnte man nicht ahnen, dass die sich zur militärischen Ausbildung in Deutschland aufhaltenden finnischen Jäger nach ihrer Rückkehr die Waffen auf die finnischen Roten richten würden. Ursprünglich strebte man eine militärische Ausbildung an, um im Unabhängigkeitskampf gegen die russischen Truppen gerüstet zu sein.
Am 7. November stürzte die provisorische russische Regierung, und die neue Regierung unter V. I. Lenin, die sich zum Kommunismus bekannte, stieg zur Macht auf. Finnland gab seinen Unabhängigkeitswillen von Russland am 15. November bekannt, als das finnische Parlament sich für den Inhaber der höchsten Staatsgewalt im Lande erklärte. Viele merkten es gar nicht, weil ein Generalstreik in Finnland im Gang war. Das Parlament stimmte am 6. Dezember der Unabhängigkeitserklärung des Senats zu.
Sibelius hielt sich zu dieser Zeit in Ainola auf und kommentierte die von ihm erträumte Unabhängigkeit in seinem Tagebuch noch nicht. Er hatte sogar drei Symphonien in Planung. „Ich habe die Symphonien Nr. 6 und 7 in meinem Kopf und auch die Neubearbeitung der Symphonie Nr. 5. Für den Fall, dass ich krank werde und nicht mehr arbeiten kann, sei das festgehalten“ schrieb er am 18.12.1917.
Auszug aus dem Tagebuch von Jean Sibelius, Dezember 1917
Sibelius‘ Jahr endete mit einem ergreifenden Klagelied. In seinem Tagebuch dachte er über Selbstmord nach, beschloss aber Aino und der Kinder zuliebe noch ein paar Jahre durchzuhalten. „Ich habe beinahe zwei Jahre lang kein Orchester gehört. Eigentlich auch keinen Menschen getroffen. Aber – wie denn sonst. Und Aino ist zurückgezogener denn je. Ist es nicht merkwürdig, dass sie, die ich liebe, kein Wort über Sachen verliert, die sie plagen. Wochenlang kein Lächeln, kein Auflachen. Alles grauer als grau. – Mein ganzes Leben war umsonst.“
Die Klagelieder gehörten während der dunkelsten Jahreszeit zu Sibelius‘ Jahresrhythmus, aber dieses Mal füllte das Jammern fast anderthalb Seiten. Ahnte Sibelius vielleicht schon die Gräueltaten des herannahenden Frühlings 1918?
Der Marsch der finnischen Jäger (Jääkärien marssi) wurde am 19. Januar 1918 auf der akademischen Unabhängigkeitsfeier gespielt. Die rechts stehende Elite von Helsinki war über die Komposition entzückt. Die Lage änderte sich jedoch schnell. Am 28. Januar eroberten die Roten Helsinki und stellten am selben Tag das Erscheinen von kapitalistischen Zeitungen, wie „Helsingin Sanomat“ ein. C. G. E. Mannerheim http://www.mannerheim.fi, ein ehemaliger finnischer Offizier in der Armee des Zaren, drang mit seinen Truppen in die russischen Garnisonen im südlichen Ostbottnien vor und entwaffnete sie. Der Bürgerkrieg war ausgebrochen.
Die Umgebung von Järvenpää fiel unter die strenge Kontrolle der Roten. Für Sibelius wurde Hausarrest angeordnet und sogar ein paar Hausdurchsuchungen wurden in Ainola durchgeführt. Sibelius‘ Freunde ermahnten ihn, nach Helsinki umzuziehen, weil die Roten, wegen sich herumtreibender Räuberbanden, seine Sicherheit auf dem Lande nicht unbedingt hätten garantieren können. Der Komponist zog mit seiner Familie zu seinem Bruder, dem Oberarzt der Nervenheilanstalt Lapinlahti.
In Helsinki wurden die Lebensmittel rationiert und Sibelius nahm im Frühling mit einer merkwürdigen „Zigarrendiät“ sogar zwanzig Kilo ab. Havanna Magasinet & Holländska Cigar Importaffären verkaufte ihm während des Frühlings brasilianische und kubanische Zigarren.
Jean Sibelius nach der Hungerkur im Frühling 1918
Nach blutigen Kämpfen, die ein paar Monate dauerten, besiegten Mannerheims Truppen die Roten und die Siegesparade fand am 14. April statt. Sechs Tage später dirigierte Sibelius den Marsch der finnischen Jäger (Jääkärien marssi) in einem Ehrenbezeugungskonzert für das Offizierkorps der deutschen Streitkräfte und am 9. Mai dirigierte er ein ganzes Kompositionskonzert.
Als die Verhältnisse sich wieder beruhigt hatten, konnte die Familie nach Ainola zurückziehen. Das vom Bürgerkrieg verursachte Elend war auch dort spürbar: Wegen Mangels an Geld und Heu musste der Komponist das Pferd der Familie verkaufen.
Die nächste Uraufführung war die Kantate Das eigene Land (Oma maa), die die Kritiker in den gewohnten Redewendungen lobten. In den Augen der Sieger war Sibelius als Komponist des Marsches der finnischen Jäger (Jääkärien marssi) ein noch größerer Nationalheld als schon zuvor.
Das Leben von Sibelius fing an, dem der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts zu ähneln. Er arbeitete fleißig und feierte zeitweise gründlich. Der Herbst 1918 und der Frühling 1919 gehörten dem Kampf um die endgültige Form der Symphonie Nr. 5. Der Tod von Axel Carpelan deprimierte Sibelius, aber er vertiefte sich als Ehrenerweis für seinen Freund noch intensiver in seine Arbeit.
Nach seinem Tagebuch war die Umarbeitung der Symphonie Nr. 5 am 22. April 1919 fertig. Sechs Tage später drohte Sibelius, dass er die beiden letzten Sätze ganz streichen und aus der Symphonie eine Einsatzfassung machen wolle. Sibelius verwarf diese Idee innerhalb einer Woche und arbeitete das Finale noch einmal um. Die Symphonie Nr. 5 war definitiv fertig.
Der Komponist beschloss eine neue Phase in seinem Leben anzufangen, jedenfalls äußerlich: zwischen Februar und Juni 1919 rasierte er sich die Haare ab. Er brachte es nicht übers Herz seinen Schnurrbart zu entfernen und in den 1920er Jahren ließ er auch seine Haare noch für manche Photographien ein bisschen wachsen.
Im Juni 1919 besuchte Sibelius mit seiner Gattin die Nordischen Musiktage in Kopenhagen. Das war die erste Auslandsreise seit dem Besuch in Göteborg 1915.
Die Nordischen Musiktage in Kopenhagen 1919. In der hinteren Reihe: Johan Halvorsen, Robert Kajanus, Georg Høeberg, Jean Sibelius und Frederik Schnedler-Petersen. In der vorderen Reihe: Wilhelm Stenhammar, Karin Bronzell, Erkki Melartin und Carl Nielsen.
Sibelius dirigierte in Kopenhagen die Symphonie Nr. 2 mit gutem Erfolg, obwohl er auch gern die neue Symphonie Nr. 5 präsentiert hätte.
Ende des Sommers überarbeitete Sibelius diverse Bagatellen. Die Uraufführung der Kantate Das Lied von der Erde (Jordens sång, Maan laulu) fand im Oktober bei der Einweihung der neuen schwedischsprachingen Universität, Åbo Akademie, in Turku statt. Ohne auf das Prohibitionsgesetz zu achten, gehörte zur Einweihung auch ein kräftiges Zechgelage. Bei dem geselligen Beisammensein spielte Sibelius auf dem Klavier seinen Freunden das Finale der Symphonie Nr. 5 vor und „sang zeitweise mit der vollen Kraft seiner Lungen mit“, wie der schwedische Journalist Kjell Strömberg später schilderte.
Ende November führte Sibelius endlich die endgültige Fassung der Symphonie Nr. 5 in vier triumphalen Konzerten in Helsinki auf. Die Kritiker lobten die neueste und endgültige Fassung und der Applaus war, sogar nach Sibelius‘ Ansicht, „außergewöhnlich“.
Nur einige Tage nach dem Konzert führte sich Sibelius bei der Einweihung des Kunstpalasts von Gösta Stenman zügellos auf. Nachdem er auf der Soiree müde geworden war, bedurfte es einer halbe Flasche Champagner, damit er dirigieren konnte. In den letzten Wochen des Jahres schmiedete Sibelius dennoch wieder an seiner Symphonie Nr. 6 und an der Kantate Hymne von der Erde (Maan virsi) zu Versen von Eino Leino.